Mannheim. Von bunten Bildchen blicken Schutzheilige auf den kleinen Georgi, der weit weg von seiner Heimat in der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) das Licht des Kreißsaales erblickt hat. So entspannt schlafend wie der Säugling beim Fotografieren im Klinikbettchen liegt, würde niemand auf die Idee kommen, dass er acht Wochen vor seiner Geburt operiert worden ist. Fetalchirurg Thomas Kohl hat den „offenen Rücken“ von Georgi als Folge von „Spina bifida“ noch im Mutterleib mit einem Art Spezialpflaster verschlossen - und dies unblutig mittels von außen eingeführten Röhrchen.
Bei der häufigsten angeborenen Fehlbildung handelt es sich um einen nicht komplett ausgebildeten Verschluss von Rückenmark und Wirbelbögen. Inzwischen weiß man: Folgeschädigungen wie Lähmungen, Fußfehlstellungen oder auch Stau von Hirnwasser bilden sich im Verlauf der Schwangerschaft zunehmend aus. Grund: Je länger Fruchtwasser hervorquellendes Rückenmark umspült, umso mehr wird an dem Spalt befindliches Nervengewebe zerstört. Deshalb ist in den USA bereits Mitte der 1990er damit begonnen worden, einen „offenen Rücken“ noch vor der Geburt zu verschließen.
Um das Baby überhaupt zu erreichen, sind zwei größere Schnitte in den Bauch und die Gebärmutter notwendig - was für Schwangere sehr belastend sein kann. Deshalb schwebte Thomas Kohl schon früh ein „Knopfloch-Verfahren “ vor. Dafür tüftelte er lange an Föten von Schafen.
Methode wurde von Medien und Medizinern mit Argwohn betrachtet
Als der Kinderarzt vor zwei Jahrzehnten am Uni-Klinikum Bonn begann, Ungeborene mit „Spina bifida“ endoskopisch zu operieren, wurde er argwöhnisch von Medien wie Medizinern beäugt. „Experiment im Mutterschoß“ titelte ein Nachrichtenmagazin. Misstrauen sollte weichen, als es ihm zunehmend gelang, den jeweiligen Spalt mit einem „Flicken“ aus Kollagen, auch „Patch“ genannt, komplikationslos wie dauerhaft zu verschließen. Der visionäre Pionier gilt längst als „einer der erfahrensten Fetalchirurgen weltweit“, wie es das Ärzteblatt formuliert. Nicht von ungefähr nehmen werdende Mamas und Papas aus ganz Europa mit dem heute 61-Jährigen Kontakt auf - häufig als letzte Hoffnung, wenn eine vorgeburtliche Untersuchung einen niederschmetternden Befund offenbart hat.
- Der im Fach Kinderheilkunde-Kinderkardiologie habilitierte Thomas Kohl hat persönlich mit seinem Team über 1500 vorgeburtliche Eingriffe in Zusammenhang mit unterschiedlichen Fehlbildungen ausgeführt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte seine medizinischen Neuentwicklungen, die ihm international Ehrenprofessuren einbrachten.
- Das von ihm aufgebaute und geleitete „Deutsche Zentrum für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie" (DZFT) befindet sich seit 2018 am Mannheimer Uni-Klinikum.
- Warum sich in den ersten Lebenswochen die Vorstufe des Wirbelkanals, das Neuralrohr, nicht verschließt und somit der Rückenmarkskanal an einer Stelle offen bleibt, gibt noch Rätsel auf. Neben genetischen Einflüssen wird als Risikofaktor der Mangel an Folsäure diskutiert, weshalb Frauen mit Kinderwunsch empfohlen wird, darauf zu achten.
Neun Jahre haben Chatuna und Paata G. auf ein Baby gewartet. Als die überglückliche Schwangere in ihrem Heimatland Georgien zu einer Routineuntersuchung ging, entdeckte der Frauenarzt beim Schallen einen „offenen Rücken“. Trotz Schock waren sich Paata G. und ihr Mann einig, um das Baby zu kämpfen. Sie nahm mit einer befreundeten Gynäkologin in Bayern Kontakt auf, die wiederum von der Möglichkeit einer Therapie noch im Mutterleib berichtete. Der Frauenärztin gelang, dass die in Erlangen sitzende Holm-Schneider-Stiftung für vorgeburtliche Therapie signalisierte, anfallende OP-Kosten zu übernehmen. Außerdem sagte das georgische Gesundheitsministerium Mittel zu.
Meist entscheiden sich Eltern für eine Abtreibung nach der Diagnose
Das Paar reiste nach Mannheim. Weil Paata G. einst in Deutschland als Au Pair gearbeitet und dabei die Sprache erlernt hat, klappte die Verständigung gut. Die beiden - sie Hausfrau, er Schutzmann - mussten nicht lange überlegen und vereinbarten einen OP-Termin. Mediziner Kohl weiß, dass sich bis 90 Prozent jener werdenden Eltern, bei deren Baby „Spina bifida“ diagnostiziert wird, zu einer Abtreibung entschließen. Von den nach einer Alternative suchenden Paaren, die bei ihm das Gespräch suchen, entscheidet sich hingegen mehr als die Hälfte gegen einen Abbruch.
Bei Georgi ist in der 26. Schwangerschaftswoche der Spalt im Rücken mit einem „Flicken“ wasserdicht abgedichtet worden. Bis zur Kaiserschnitt-Entbindung in der 34. Woche wohnte das Paar in einem Mannheimer Mietappartement. Bei der Geburt wog der putzmuntere Junge zwei Kilo und 100 Gramm. Auf seinem Rücken prangt nach wie vor der hauchdünne Kollagen-Verschluss, der allmählich von eigener Haut ersetzt wird. Um die medizinische Nachsorge kümmert sich Philip Kunkel, Leiter der Sektion Kinderneurochirurgie. Vermutlich wird Georgi nicht zu jenen Kindern mit „Spina bifida“ gehören, bei denen sich Hirnwasser staut. Wie die Ärzte berichten, blieb die Größe der Hirnkammer unverändert.
Wer zu „Spina bifida“ recherchiert, stößt auf das Video „OP im Mutterleib“ - vom Wissenschaftsmagazin „Quarks“ ins Netz gestellt. Darin erzählt Christine Hempelmann, welche emotionale Achterbahnfahrt die Ultraschall-Diagnose „offener Rücken“ bei ihr und dem Vater des Kindes ausgelöst hat. Außerdem zeigt der TV-Beitrag , wie Fetalchirurg Kohl, damals noch in Gießen, über drei von außen geführte Röhrchen - zwei für das von ihm entwickelte Instrumentarium und eines für die Kamera - den Spalt im Rücken des kleinen Mädchens verschließt. Der Film endet, wie die elf Monate alte Fee lachend krabbelt.
Normale Entwicklung des Kindes möglich
Und wie hat sie sich weiter entwickelt? Der „MM“ nimmt mit der Mama telefonisch Kontakt auf. „Fee ist jetzt neun Jahre alt und hat keinerlei Einschränkungen“, berichtet Christine Hempelmann. In unserem Gespräch geht es freilich auch darum, dass nicht alle Kinder mit dieser Fehlbildung so viel Glück hatten - vor allem jene, die erst im Säuglingsalter operativ behandelt wurden. Das Ergebnis einer Studie, die das Schicksal von betroffenen Mädchen und Jungen bis in die Schulzeit verfolgte, fasst das Deutsche Ärzteblatt so zusammen: „Kinder mit der Diagnose ,Spina bifida’ profitieren erkennbar und nachhaltig davon, wenn ihr offener Rücken bereits im Mutterleib - statt erst nach der Geburt - chirurgisch geschlossen worden ist.“ Nicht nur die motorische Entwicklung, insbesondere das Gehen, verlaufe häufig weit günstiger. Auch das Risiko für Ansammlungen von Hirnwasser vermindert sich laut der Studie deutlich. Der vorgeburtlichen Chirurgie sind aber auch Grenzen gesetzt: Bereits davor aufgetretene Lähmungserscheinungen, so Spezialist Kohl, lassen sich ebenso wenig rückgängig machen wie ein schon fortgeschrittener Wasserkopf.
Christine Hempelmann ist überzeugt: Ihre Tochter vermochte sich abgesehen von der günstigen Lage des Spaltes deshalb „so super“ zu entwickeln, weil ihr Entschluss zu dem Eingriff sehr früh gefallen ist. Fee war gerade mal 20 Wochen in Mamas Bauch, als Thomas Kohl die empfindliche Öffnung mit einem Kollagen-Flicken schützend verschloss.
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