Vielversprechende Substanz - Krankheitszahlen bei psychischer Erkrankung erhöhen sich in den vergangenen Jahren stetig / Männer „holen auf“ / Bilanz zu Hilfen

Mannheim: Was Magic Mushrooms mit der Therapie von schweren Depressionen zu tun haben

Von 
Lea Seethaler
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Depressionen sind laut Fachgesellschaften eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. © DPA

Mannheim. Die Zahl der wegen Depression behandelten Versicherten ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, auch in Mannheim. Das geht aus Daten einer Erhebung der AOK Baden-Württemberg hervor. Die Krankenkasse gibt an, dass sich die Zahl in Mannheim zwischen 2016 und 2020 von 16 239 auf 17 575 erhöhte. In Bezug auf die gesamten Versichertenzahlen sehe man eine „tatsächliche, stetige Steigerung“, so AOK-Sprecher Alexander Föhr. Bei der Erhebung der Versichertendaten zeige sich zudem, dass auch in der Quadratestadt fast doppelt so viele Frauen wie Männer unter einer solchen Erkrankung litten.

Diese Ergebnisse sowie der ungleiche Anstieg der Geschlechter decken sich mit Zahlen anderer Krankenkassen und auch mit deutschlandweiten Trends. So zeigt der „DAK-Psychereport 2021“ zwischen 2010 und 2020 einen Anstieg der Fehltage im Beruf wegen psychischer Erkrankungen um 56 Prozent. Zudem stieg besonders die Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen bei Frauen kontinuierlich.

Michael Deuschle, Leitender Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), hat eine Erklärung für diese Zahlen. „In der Forschung weiß man schon lange, dass Frauen länger und auch häufiger von Depressionen betroffen sind.“ Das liege an verschiedenen Faktoren. Einer ist der soziologische Aspekt. „Frauen gehen eher zum Arzt, wenn es ihnen schlecht geht, Männer neigen zu Substanzkonsum“, so Deuschle. Es wird also mehr diagnostiziert.

Zudem gebe es auch biologische Gründe. „Frauen sind durch die Hormone, die auf die Stimmung wirken, in ihren verschiedenen Lebensphasen anfälliger für Depressionen“, so Deuschle. Beispiele dafür sind das Prämenstruelle Syndrom, das depressive Episoden vor der Menstruation auslösen kann, oder die Wechseljahre.

Substanz aus Pilzen: Abhilfe bei schweren Depressionen?

  • Auch die medikamentöse Depressionstherapie macht Fortschritte. Am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist ein Medikament namens Psilocybin in weit vorangeschrittenen Studien in der Wirksamkeitsprüfung.
  • Das Team um Gerhard Gründer forscht an der Substanz, die auch in umgangssprachlich „Magic Mushrooms“ genannten Rauschpilzen vorkommt. Psilocybin zählt zu den sogenannten klassischen Psychedelika. Diese Substanzen können die Wahrnehmung, das emotionale Erleben und das Bewusstsein stark verändern.
  • Genau das macht sie für die Behandlung psychischer Erkrankungen interessant. Die ersten Ergebnisse der Studien ließen Anlass zur Hoffnung, heißt es vom ZI – unter anderem als Behandlungsalternative für therapieresistente Depressionen. Psilocybin kann etwa bereits nach einmaliger Gabe die Symptome psychischer Erkrankungen zum Teil langanhaltend positiv beeinflussen, so zeigten erste Forschungen.
  • Der genaue Mechanismus – und auch Rückschlüsse auf die Krankheit Depression und andere psychische Erkrankungen– sind jetzt für die Forschenden von Interesse. Denn einsetzbar könnte Psilocybin wohl auch bei Suchterkrankungen und anderen psychischen Erkrankungen sein.

Erkrankte vs. Diagnostizierte

Der Anstieg der Diagnosezahlen lässt nun bestimmt viele denken: „Na klar, es wird alles immer stressiger, früher war alles besser.“ Doch hier sollte man Vorsicht walten lassen. Auch wenn Depressionen heute gesellschaftlich noch mit Stigma belastet sind, findet durch Akteure in den (sozialen) Medien mehr öffentlicher Diskurs und damit auch stückweise eine Enttabuisierung der Krankheit statt. Egal, ob durch einen TV-Arzt, der aufklärt, Promis, die sich auf Instagram als depressiv „outen“- oder öffentlichkeitswirksame Selbsthilfearbeit. Experten vermuten schon länger, dass früher das Tabu der Depression noch schwerer wog, was dazu geführt haben konnte, das Betroffene ihr Befinden lange sogar in Studienbefragungen nicht angegeben haben.

Die AOK gibt hinsichtlich ihrer Daten zudem an, es sei „auffällig“, dass in den vergangenen Jahren auch zunehmend Männer erkrankten und der mittlere Anstieg bei ihnen mit 1,5 Prozent höher ist als bei den Frauen - bei ihnen sind es 0,6 Prozent. Auch für diesen Fakt aus der Studie, also dass Männer bei den Zahlen langsam „aufholen“, hat Michael Deuschle vom ZI eine Erklärung, die auf die gerade genannte gesellschaftliche Entwicklung abzielt. „Es findet ein Kulturwandel statt. Auch Männer ,dürfen‘ heute sagen: ,Ich fühle mich nicht gut’, ,Ich fühle mich schlecht, ich gehe zum Arzt.’“ Der Diskurs habe sich verändert.

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Und wie sieht die Lage hinsichtlich der Psychotherapie 2022 aus? „In der Pandemie hat Psychotherapie zum Großteil online stattgefunden. Die erste Sitzung meist in Präsenz, dann gab es weitere online“, beschreibt Deuschle. Das sei nun auch abrechnungsseitig möglich und funktioniere gut. Allgemein sei Online-Psychotherapie eine Entwicklung, die Psychotherapie weiteren Kreisen von Patienten zugänglich mache. „Wichtig ist aber: Diese Form ist kein Ersatz für eine reguläre Psychotherapie, aber Patienten nützt die digitale Unterstützung. Es gibt erste Evidenz, es ist aber noch keine Standardtherapie “, so Deuschle.

Viele Patienten säßen lange Zeit auf Wartelisten für einen Therapieplatz, gerade hier sei die Online-Therapie eine gute Überbrückung. „Diese Form der Therapie eignet sich nur bei leichten oder mittelschweren Depressionen. Eine schwere Depression zeichnet sich oft dadurch aus, dass es zu Suizidalität kommt, was eine persönliche Behandlung unverzichtbar macht“, betont Deuschle.

Nach australischem Vorbild ist indes 2020 unter Deuschle in Mannheim das Erste-Hilfe-Projekt „MHFA Ersthelfer“ für psychische Notfälle entstanden. Dort lernt man Symptome bei Mitmenschen in Beruf, Alltag oder Freundeskreis zu erkennen und Betroffene zur Hilfe zu lotsen. Das Programm habe ein „tolles Feedback erhalten“, bilanziert Deuschle das Projekt. 5000 Menschen haben sich in ganz Deutschland zum Ersthelfer ausbilden lassen, die Einführung sei „überfällig“ gewesen. Viele Menschen hätten auch tatsächlich „Erste Hilfe“ geleistet. „Da war etwa ein Teilnehmer, der in der Firma eine Kollegin angesprochen hat, bei der er Zeichen für eine psychische Erkrankung gesehen hat, und sie dazu bewegen konnte, in Behandlung zu gehen“, so Deuschle.

Fakten und Ersthelfer-Kurse

  • Psychische Probleme werden meist durch ein Wechselspiel verschiedener Ursachen ausgelöst. Sie sind quasi Interaktion aus zurückliegender oder aktueller Belastungssituation mit einer genetischen Veranlagung, die zur Krankheit beiträgt.
  • Belastungssituationen entstehen oftmals durch psychosoziale Fakten, „insbesondere einschneidende Lebensveränderungen, wie etwa der Tod eines geliebten Menschen oder auch chronische Überlastung – und in den zurückliegenden Monaten gerade auch die mit einer Pandemie verbundenen Ängste“, so die AOK in ihrer Studie.
  • Im Pandemiejahr 2020 waren 13,2 Prozent der bei der AOK Baden-Württemberg Versicherten wegen Depressionen in Behandlung.
  • Das ZI Mannheim bietet Erste-Hilfe-Kurse für psychische Notfälle an. Um Ersthelfer zu werden, muss man einen zwölfstündigen Ersthelferkurs absolvieren. Dort lernt man Symptome in Beruf und Alltag oder Freundeskreis zu erkennen und Betroffene zu Hilfe zu lotsen. Der Kurs kostet rund 200 Euro.
  • Kursangebote in der Nähe sind zu finden über folgenden Link: www.mhfa-ersthelfer.de/de/ersthelfer/kurs/
  • Ausführliche Infos unter www.mhfa-ersthelfer.de
  • Allgemeine Infos und Hilfe unter www.deutsche-depressionshilfe.de

Abhilfe bei schweren Depressionen?

Auch die medikamentöse Depressionstherapie macht indes Fortschritte. Am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ist ein Medikament namens Psilocybin in weit vorangeschrittenen Studien in der Wirksamkeitsprüfung. Das Team um Gerhard Gründer forscht an der Substanz, die auch in umgangssprachlich „Magic Mushrooms“ genannten Rauschpilzen vorkommt. Psilocybin zählt zu den sogenannten klassischen Psychedelika. Diese Substanzen können die Wahrnehmung, das emotionale Erleben und das Bewusstsein stark verändern. Genau das macht sie für die Behandlung psychischer Erkrankungen interessant. Die ersten Ergebnisse der Studien ließen Anlass zur Hoffnung, heißt es vom ZI - unter anderem als Behandlungsalternative für therapieresistente Depressionen. Psilocybin kann etwa bereits nach einmaliger Gabe die Symptome psychischer Erkrankungen zum Teil langanhaltend positiv beeinflussen, zeigten erste Forschungen. Der genaue Mechanismus - und auch Rückschlüsse auf die Krankheit Depression und andere psychische Erkrankungen - sind jetzt für die Forschenden von Interesse. Denn einsetzbar könnte Psilocybin wohl auch bei Suchterkrankungen und anderen psychischen Erkrankungen sein.

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

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