Mannheim. Yonathan Bar-On ist Lehrer am Leo Baeck Institut in Haifa, Mannheims Partnerstadt in Israel. Im April ist er zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder in Deutschland gewesen, unter anderem, um Mannheims Lessing-Gymnasium, die Partnerschule vom Leo Baeck, zu besuchen. Mit der Schule und dem stellvertretenden Schulleiter, Andreas Breunig, verbindet Yonathan eine enge Freundschaft. Wir treffen ihn in der Mitte seines Aufenthaltes, er hat bereits vor Klassen in Stuttgart und Mannheim gesprochen, und er sagt: „Alle waren informiert und interessiert, es gab viele sehr gute Fragen.“ Er habe gespürt, dass die Menschen hier die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Hoffnung darauf, dass es Frieden in Israel geben wird. Für viele Menschen in Yonathans Heimat sei das nicht mehr selbstverständlich. „Einige glauben nicht mehr, dass sich die Situation eines Tages zum Besseren wenden wird.“
Seit Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfielen und wahllos fast 1200 Menschen töteten, ist für Yonathan nichts mehr, wie es war. „Israel vor und nach dem 7. Oktober sind zwei verschiedene Länder“, sagt er. Der Vater dreier – inzwischen fast schon erwachsener – Kinder hat zwar nicht mehr den mit Pässen und einem Handykabel bepackten Rucksack neben sich am Bett stehen, um, wenn es nötig ist, das Haus schnell verlassen zu können. Die Angst vor einem Krieg mit dem Iran und Libanon ist nicht mehr akut, das Leben in Haifa geht seinen Gang, die Kinder gehen zur Schule, die Eltern zur Arbeit.
Und doch hat sich etwas verändert. Da ist die App auf dem Handy, die die Bürger vor Raketenangriffen warnt. Da ist das Zimmer in der Wohnung, in dem Notrationen von Wasser und Lebensmitteln lagern. Seit 1991 müssen alle neu gebauten Häuser und Wohnungen in Israel mit einem sicheren Zimmer ausgestattet sein. Da sind die Demonstrationen jeden Samstag, die sich für Frieden und die Freilassung der Geiseln einsetzen, die sich noch immer in der Gewalt der Hamas befinden. Da sind die Kinder in Yonathans Klasse, die tief verunsichert sind. Sie schreiben in Aufsätzen: „Life can end in a second“, das Leben kann in einer Sekunde vorbei sein. Da sind die Kontakte zwischen Juden und Arabern, die komplizierter denn je sind.
Haifa als Beispiel für ein Zusammenleben von Juden, Moslems und Christen
Yonathan, ein gebürtiger Niederländer, der zum jüdischen Glauben konvertierte und mit einer jüdisch-israelischen Frau verheiratet ist, unterhielt 2016 zusammen mit dem Stuttgarter Lehrhaus ein interreligiöses Projekt mit einer christlichen Einrichtung in Ramallah; die Stadt lieg in den palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland. Der geistliche Leiter der Schule hatte ihn sogar zu Hause in Haifa besucht. „Es war das erste Mal, dass meine Kinder Palästinenser getroffen haben, die nicht wie in den Fernsehnachrichten als Terroristen dargestellt wurden, und die Söhne des geistlichen Leiters trafen zum ersten Mal Juden, die keine Siedler oder Soldaten waren.“ Nach dem 7. Oktober hat er von seinem palästinensischen Kollegen nichts mehr gehört. Er habe versucht, ihn anzurufen, habe ihm Nachrichten über Whatsapp geschickt. Doch eine Antwort sei ausgeblieben.
In Haifa leben Juden, Moslems und Christen seit jeher zusammen. Viele Einrichtungen in der Stadt, darunter das Leo Baeck Zentrum, betreuen Projekte, die dieses Zusammenleben aktiv fördern. „Wenn man das Treffen mit dem anderen nicht sucht, gibt es kein Treffen, man kann gut in seiner Blase leben“, mahnt Yonathan. Er sagt, er sei, was Israels Zukunft angehe, selbst skeptisch. Aber: „Es gibt keine Alternative außer einer Friedenslösung.“ Es sei wichtig zu verstehen, dass es in diesem Konflikt mehrere Seiten gebe, Opfer hier wie dort litten und dass alle Mitleid verdienten. „Wir haben viel gemeinsam, und darum sollten wir uns bemühen.“ Wenn er vor Klassen in Deutschland spreche, sei er oft der erste Jude, den die Schülerinnen und Schüler erlebten, sagt Yonathan. Umgekehrt sei Andreas Breunig, wenn dieser in Haifa zu Gast sei, für viele von Yonathans Studierenden der erste Deutsche, mit dem sie ins Gespräch kämen. So entstünden persönliche Beziehungen. Wenn etwas passiere in der Stadt des jeweils anderen, wie das Messerattentat auf dem Mannheimer Marktplatz im vergangenen Jahr, mache man nicht einfach weiter, sondern frage nach: „Alles in Ordnung bei euch?“
Irgendwann soll es auch wieder einen Schüleraustausch geben
Inzwischen ist Yonathan zurück in Israel. Eines seiner nächsten Projekte ist die Vorbereitung von Unterrichtseinheiten, basierend auf dem niederländischen Kinderbuch „Der Mann in der Wolke“. Die dreisprachige Übersetzung – arabisch, hebräisch, deutsch – haben jüdische und arabische Schüler in Haifa sowie deutsche Schüler vorbereitet. Das Buch handelt von der Bedeutung des Akzeptierens des Anderen und den Gefahren der Gier und soll laut Yonathan nach den Sommerferien Thema in israelischen und deutschen Schulen werden. „Sobald es die Lage erlaubt, soll es auch wieder einen Schüleraustausch mit dem Lessing in Mannheim geben“, gibt sich Yonathan hoffnungsfroh, bald wieder Schülerinnen und Schüler in Haifa begrüßen von können.
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