„Blinde Kuh“ ist ein lustiges Versteckspiel für Kinder. Doch bei der gezeichneten Novelle „Blindekuh mit dem Tod“ geht es ums blanke Überleben: In der von Anna Tarnovetska gestalteten Graphic Novel wird das alltägliche Leben im Angesicht der drohenden Vernichtung jüdischen Lebens während des Zweiten Weltkriegs geschildert. Die Kindheit von Herbert Rubinstein, 1936 in Czernowitz geboren, wird zusammen mit drei weiteren jüdischen Kindern dargestellt. In dem Buch finden sich neben den Geschichten auch ein Glossar, diverse Materialien und eine Karte des Czernowitzer Ghettos.
Rubinstein entging als Kind mit Glück der Deportation durch die Nationalsozialisten, konnte später mit seiner Mutter in die Niederlande auswandern, heiratete und lebt seitdem in Düsseldorf. Er ist 87, wirkt aber 20 Jahre jünger, und kam am Mittwoch zu Besuch ins Dalberghaus der Stadtbibliothek, um mit Schülern der 8b der Integrativen Gesamtschule Herzogenried (IGMH) ins Gespräch zu kommen - über die Graphic Novel, sein Leben, die Verfolgung der Juden während des Krieges und den Bezügen zu heute.
Nur knapp dem Tod entkommen
Der Krieg in der Ukraine sei bedrückend, „mir wird angst und bange, wenn ich daran denke, welche Möglichkeiten es gibt, mit den heutigen Waffen Menschen zu vernichten“. Applaus von den Schülern gibt es, als er daran appelliert, die Demokratie zu erhalten. Rubinstein betont: „Die AfD versucht die Demokratie kaputt zu machen, lasst euch auf diese Rattenfänger nicht ein!“ Deutschland werde schlecht geredet, doch „uns geht es gut im Vergleich zu anderen Ländern, sonst würden keine Flüchtlinge zu uns kommen“.
Die Lage sei damals in Bezug zu Flüchtlingen ähnlich gewesen: Nur wenige Länder hätten in seiner Kindheit Juden aufgenommen. Ein Teil seiner Familie wanderte nach Süd- und Nordamerika aus. Seine Mutter und er entkamen nur knapp der Deportation und damit dem nahezu sicheren Tod. Sie waren schon in einem Viehwaggon, der Zug sollte tausende Jude in ein Lager in Transnistrien bringen. Dort starben rund 300 000 Juden und Roma. Doch dann wurden sie wieder heraus gewinkt, die Mutter hatte nämlich gefälschte polnische Ausweise besorgt. Als die Russen Czernowitz eroberten, hofften sie auf Besserung, doch seiner Mutter und anderen Juden wurde unterstellt, dass sie Lebensmittel unterschlagen und auf dem Schwarzmarkt verkauft hatten, sie kam ins Gefängnis. Die Mutter konnte mit ihrem Sohn nach Holland ausreisen, wo er aufwuchs.
Für die große Liebe nach Deutschland gezogen
Ein Schüler fragte, ob Rubinstein seine Freunde aus der Kindheit verloren habe. „Ich war nicht regelmäßig in der Schule, wir haben in verschiedenen Städten gelebt. Freunde habe ich erst in den zehn Jahren in Holland gefunden.“ Ein weiterer wollte wissen, wieso er nach Deutschland gezogen ist. Zuerst habe er dem zweiten Ehemann seiner Mutter in Düsseldorf geschäftlich geholfen, „dann lernte ich meine große Liebe kennen, die Frau wohnte in Köln“. Weil Schwiegereltern, Vater und Mutter in Deutschland wohnten, blieb das Paar in Düsseldorf.
Antisemitismus habe er auch in Deutschland erlebt: Als er als Handlungsreisender in den 50er Jahren unterwegs war, sagte ihm ein Firmenmitarbeiter: „Bei Juden kaufen wir nicht!“ Weiter sei in Düsseldorf die Synagoge beschmiert worden und es gibt anonyme sowie auch mit Adresse und Namen versehene üble Briefe, auch mit dem üblichen Stereotyp, „dass Juden die Weltherrschaft anstreben“. Doch Rubinstein sagte, dass es Judenfeindlichkeit gebe, seitdem es Juden gibt. Rassismus sei Teil der menschlichen Schwächen. Er betont: „Einige sind nicht besser als andere, wir gehören alle zur Gattung Mensch.“ Und er sagt, dass er hierzulande viele gute Menschen kennengelernt habe.
Prominentes Vorbild: Art Spiegelmans "Maus."
Die Graphic Novel „Blinde Kuh mit dem Tod“ hat einen prominenten stilistischen Vorläufer: „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ von Art Spiegelman war eine kritisch diskutierte Sensation, darin ging es um den Holocaust und die schmerzhafte Erinnerung daran. „Ein Meisterwerk! Das habe ich mindestens 20 mal gelesen!“, rief Kantor Amnon Seelig von der Jüdischen Gemeinde Mannheim dazwischen. Er umrahmte die dreistündige Veranstaltung mit zwei Liedern des jüdischen Komponisten Joseph Schmidt, der aus Czernowitz stammt. Künstlerin Anna Tarnovetska hat in „Blinde Kuh“ die Menschen und ihre Umgebung jedoch real gezeichnet, sie wurden also nicht wie bei Spiegelman als Mäuse und Katzen verfremdet. Es sollte authentisch sein, das betrifft sowohl die realen Geschichten der Akteure als auch Gebäude und anderes in den Zeichnungen.
Das Buch erschien zuerst auf Ukrainisch, denn so Rubinstein, „haben wir festgestellt, dass die Jugend dort nichts von der eigenen Geschichte wusste“. Also auch nicht, dass „die Ukrainer den Deutschen zum Teil die schmutzige Arbeit abgenommen haben“. Sprich: Sich auch am Massenmord beteiligten. Nun ist auch die deutsche Auflage erschienen, wieder organisiert von Matthias Richter von der jüdischen Gemeinde Düsseldorf. In der wie Mannheim mit Czernowitz befreundeten Stadt Düsseldorf gebe es zwei Klassensätze der Graphic Novel zur Leihe, beide seien bis Ostern ausgebucht. Nach Klassensätzen erkundigten sich auch die Lehrer Judith Hoffmann und Marko Schleicher von der Integrativen Gesamtschule Herzogenried. Das im Verlag „Edition Virgines“ erschienene Werk ist auch für 20 Euro im Buchhandel erhältlich.
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