In der ZDF-Wahlsendung „Klartext, Herr Scholz“ sollte sich der Kanzlerkandidat der SPD am 14. September auf bundesweiter Bühne den Fragen ausgewählter Bürger stellen. Dass Michael Tänzer, Rentner aus Sachsen-Anhalt, eigentlich gar keine Frage hatte, sondern vielmehr die Forderung platzierte, die „Sprachpolizei“ abzuschaffen, damit er wieder in Ruhe sein „Zigeunerschnitzel“ bestellen kann, passt ins Bild einer gesellschaftlich überhitzten Zeit, in der Rassismus wieder erstaunlich salonfähig geworden ist. Doch eigentlich erstaunlich war Scholz’ Antwort. Denn anstatt Tänzer – getreu seinem Motto „Respekt für Dich“ – klarzumachen, dass der Begriff des sogenannten Zigeuners mit Achtung und Menschenwürde nichts zu tun hat, beschwichtigte der sozialdemokratische Kandidat und rief dazu auf, sich gegenseitig in der Unterschiedlichkeit der Meinungen zu tolerieren.
Die Reaktion, eben nicht deutlichzumachen, dass der Begriff Zigeuner eine Minderheit herabwürdigt, lässt sich seit dem Nationalsozialismus bei Millionen Menschen aus der Zivilgesellschaft und in politischer Verantwortung beobachten. Dass der Zigeunerbegriff keineswegs wie oftmals behauptet als harmlose Floskel zu betrachten ist, sondern damals wie heute in direktem Zusammenhang mit Kriminalität und Asozialität gestellt wird, ist hinreichend untersucht und empirisch belegt. Zwar gibt es heute keine Berufsverbote, Schulausschlüsse oder Festnahmen mehr für Sinti und Roma, die sich zu ihrer kulturellen Herkunft bekennen. Allein, die Traumatisierungen der Vergangenheit sind auch heute noch manifest und quasi nahtlos von Betroffenen auf Hinterbliebene übergegangen. Die Gründe dafür sind so klar wie wenig überraschend. Denn einerseits hat der Antiziganismus, das zeigen Studien eindeutig, seine Salonfähigkeit mit erstaunlicher Konsequenz bewahrt. Andererseits musste jeder Akt der Anerkennung, Wiedergutmachung und Teilhabe an der Nachkriegsgesellschaft mühsam und oft gegen erbitterte Widerstände erstritten werden.
Mit verharmlosenden Antworten wie der von Olaf Scholz wird das auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene so bleiben. Der behauptete Respekt wird so nur eine Idee der Vielfalt degenerieren, die doch eigentlich Realität sein könnte. Das gilt auch für Mannheim. 4000 der geschätzt insgesamt 12 000 Sinti und Roma in Baden-Württemberg leben in der Quadratestadt und der Rhein-Neckar-Region – das ist ein stolzes Drittel. Und damit auch eine Aufgabe, der es politisch und gesellschaftlich gerecht zu werden gilt. Bei den Themen Bildung, Wohnen und Arbeitsmarkt, aber auch im Kampf für die Offenheit und gegen Vorurteile. Denn wer als Sinto oder Rom Rassismus erfährt, braucht nicht weniger die Hilfe von couragierten Mitbürgern als Juden oder Dunkelhäutige – auch, wenn deren Schutz längst mehr zur Staatsräson gehört.
Der Kampf gegen Antiziganismus beginnt jeden Tag neu und bleibt zeitlos wichtig – nicht nur, aber auch, weil er so lange hat auf sich warten lassen. Und er braucht echten Klartext, den vom normalen Bürger bis zum Bundeskanzler jeder leisten kann und sollte. Es ist höchste Zeit dafür!
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-klartext-gegen-antiziganismus-_arid,1854058.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Klartext gegen Antiziganismus