Der Kinderschutzbund Mannheim ist umgezogen. Im selben Gebäude wie zuvor, N3, 7, aber in größeren Räumlichkeiten im ersten Stock, ist mehr Platz für die vielen Beratungsangebote vor Ort. Schutzkonzept-Beraterin Ursula Fohl erzählt im Interview mit dieser Redaktion, worüber sich Kinder und Jugendliche die größten Sorgen machen und warum jeder Verein ein Schutzkonzept gegen Missbrauch haben sollte.
Wie hat sich die Arbeit des Kinderschutzbundes in den vergangenen Jahren verändert?
Fohl: Sie hat sich professionalisiert. Ursprünglich war unsere Arbeit überwiegend durch Ehrenamtliche und durch Nachbarschaftshilfe geprägt. Mit dem wachsenden Bedarf hat sich das geändert. In Mannheim sind wir inzwischen acht Hauptamtliche Mitarbeiterinnen.
Kinder haben während Corona, Krieg und Klimakrise die Hilflosigkeit ihrer Eltern erlebt.
Mit welchen Fragen kommen Kinder und Jugendliche zu Ihnen?
Fohl: Mobbing in der Schule ist ein Thema, Streit mit Eltern und Lehrern und Beziehungsprobleme. Weil die Jugendlichen alles über die Handys machen und andere immer gleich mitlesen, ist die Verletzungsgefahr extrem groß geworden: Dinge werden weitergetragen, von denen sie dachten, dass es nur der Partner mitbekommen hat. Zunehmend sind auch psychische Probleme, zum Beispiel Essstörungen und Ängste. Manche Kinder wollen überhaupt nicht mehr in die Schule oder aus dem Haus.
Hängt das mit der Pandemie zusammen?
Fohl: Das fing schon vor Corona an. Aber dadurch, dass Kinder während der Pandemie so allein waren und die Sicherheit mit der Schule weggefallen ist, hat sich das Problem dramatisch verschlechtert. Die Gespräche sind länger und ernsthafter geworden. Natürlich waren die Gespräche auch vorher schon ernsthaft, aber die Schwierigkeiten, die Kinder heute haben, sind existenziell sehr viel bedrohlicher.
Woran liegt das?
Fohl: Die Kinder haben während der Corona-Zeit, durch den Krieg und die Klimakrise die Hilflosigkeit ihrer Eltern erlebt. Das ist gerade für kleinere Kinder verstörend. Sie können nicht zwischen einer globalen Bedrohung und einer persönlichen unterscheiden. Sie haben keinen Einfluss, es wird über sie entschieden. Politik richtet sich eher an ältere Menschen, Kinder kommen darin nicht vor.
Und mit welchen Sorgen kommen die Eltern?
Fohl: Die sind ähnlich. Es sind oft Probleme mit der Schule, die Kinder wollen nicht mehr hin. Da ist irgendetwas aus dem Tritt geraten. Eltern haben Zukunftssorgen in Bezug auf die Kinder, wie es weiter geht und ob sie das schaffen.
Der Kinderschutzbund
- Der Kinderschutzbund Mannheim ist laut eigenen Angaben seit 1977 die größte Lobby für Kinder in der Region.
- Ursula Fohl ist Mitglied im Vorstand und für die Mobile Kinder- und Jugendsprechstunde zuständig.
- Fohl koordiniert zudem das Jugend- und Elterntelefon, die sogenannte „Nummer gegen Kummer“. Diese ist unter der 116 111 (für Kinder) und der 0800/111 0550 erreichbar.
Zum Thema Schutzkonzept in Vereinen - inwieweit ist der Kinderschutzbund involviert?
Fohl: Wir haben vor Jahren angefangen, ein Schutzkonzept für die eigene Institution zu entwickeln. Nun bieten wir auch an, Vereine und Institutionen zu beraten und diesen Prozess zu begleiten.
Braucht jeder Verein ein eigenes Schutzkonzept?
Fohl: Ja, denn die Gegebenheiten sind ganz unterschiedlich. In manchen Vereinen sind erwachsene Ehrenamtliche alleine mit Kindern, in manchen ist es eine größere Gruppe - das macht einen riesen Unterschied.
Rennen Ihnen die Vereine nach dem öffentlich gewordenen Missbrauch eines Heidelberger Rugby-Trainers die Bude ein?
Fohl: Nein. Es fängt sehr langsam an, dass Schutzkonzepte in den Vereinen vorgeschlagen werden, dass sie wichtig wären. Es ist aber noch nicht so bekannt, dass man sich dabei begleiten lassen kann.
Täter haben Strategien, sie nutzen genau diese Dunkelfelder.
Von Vereinen hört man oft den Satz „Das brauchen wir nicht, bei uns kann sowas nicht passieren“.
Fohl: Übergriffe auf Kinder und sexuelle Gewalt sind nichts, was zufällig passiert. Das ist geplant. Täter haben Strategien, sie nutzen genau diese Dunkelfelder. Wenn im Brustton der Überzeugung gesagt wird, ´bei uns kann das nicht passieren´, dann ist das eine ganz herzliche Einladung an Täter.
Ein Pädophiler muss sich nur als Jugendtrainer zum Beispiel beim Kinderturnen ausbilden lassen, dann hat er Zugriff auf alle …
Fohl: Tatsächlich findet das so statt. Wenn etwas passiert ist, haben Vereine häufig eine Hemmschwelle, das offenzulegen. Der Täter wird dann rauskomplementiert, aber nicht belangt und verfolgt, und geht dann halt zum nächsten Verein.
Warum ist das so?
Fohl: Es ist die Angst, keine Ehrenamtlichen zu finden, denn die sind einfach unsicher, was sie dürfen und was nicht. Genau das ist auch Aufgabe von einem Schutzkonzept: Es gibt den Mitarbeitern und Ehrenamtlichen Sicherheit. Was ist überhaupt sexuelle Gewalt, wo beginnt ein Übergriff, eine Grenzverletzung? Wenn man das weiß, kann man viel sicherer damit umgehen und muss auch keine Angst mehr haben, dass man vielleicht bezichtigt wird.
Wie kann man die Angst abbauen, sich mit dem schrecklichen und auch belastenden Thema Kindesmissbrauch zu befassen?
Fohl: Als ich angefangen habe, mich mit dem Thema zu befassen, war meine erste Frage: Will ich das? Muss ich das? Die Vorstellung gerade von den Kleinen, die zu einem Trainer aufblicken und noch vertrauen, ist wirklich unvorstellbar, monströs. Dann stand für mich die Frage im Raum, ob ich das Kindern zumuten will, nur weil ich nicht hingucken will. Wenn wir uns diese Frage stellen, dann fällt es auch nicht mehr so schwer.
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