Mannheim. Nun sind es Plakate statt Kerzen und Blumen, die rund um den Mannheimer Marktplatz die verhängnisvollen Szenen wieder ins Gedächtnis rufen, die sich hier vor einem Jahr abgespielt haben. Eigentlich sollten die beiden Polizeibeamten an diesem Tag einen psychisch kranken Mann zurück in das nahe gelegenen Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) bringen, hatte sie der behandelte Arzt deshalb um Hilfe gebeten.
Was dann genau am Morgen des 2. Mai geschah, ist bislang noch nicht juristisch aufgearbeitet. Nur so viel ist klar: Der Mann, ein 47-Jähriger mit kroatischen Wurzeln, der an paranoider Schizophrenie litt, ist bei dem Einsatz ums Leben gekommen. Die Mannheimer Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen die beiden beteiligten Polizisten erhoben. Während sich im Hintergrund die Angehörigen als Nebenkläger für einen möglichen Prozess rüsten, warten auch die Öffentlichkeit, Polizei und Aktivisten auf die Entscheidung des Mannheimer Landgerichts, ob der Fall vor Gericht landet.
Initiative will öffentlichen Druck hochhalten
Wann eine Entscheidung fallen könnte? Auf „MM“-Anfrage erklärt Joachim Bock, Vorsitzender Richter und Sprecher des Mannheimer Landgerichts: „Aktuell arbeitet die Kammer bereits im Zwischenverfahren intensiv an der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens.“ Parallel dazu seien zudem zahlreiche Verfahren anhängig, in denen die Angeklagten in Untersuchungshaft sitzen und deshalb die Zeit dränge.
Bis der Fall von der Justiz behandelt wird, bleiben noch einige Fragen offen, ruft die Initiative 2. Mai, die sich aus einer Handvoll Mitgliedern aus dem linken und gewerkschaftlichen Milieu zusammensetzt, zum Jahrestag zur Demo durch die Innenstadt auf – gegen Polizeigewalt und im Gedenken an den Verstorbenen. Damit wolle man den öffentlichen Druck hochhalten, so ein Sprecher der Initiative. „Auch ein Jahr danach gibt es noch immer kein Verfahren gegen die Beamten. Wir haben den Eindruck, dass das bewusst verzögert wird“, sagt der Sprecher. Start der Demo ist am Plankenkopf, Ziel der Marktplatz, wo Blumen und Kerzen niedergelegt werden sollen.
Damit will die Initiative laut Sprecher der Staatsanwaltschaft sowie dem Landgericht klarmachen: Der tragische Vorfall lässt die Öffentlichkeit und die Mannheimer nicht kalt. Auch die Rolle des ZI in dem Fall hält die Initiative für äußerst fragwürdig, kritisiert sie auch Oberbürgermeister und Polizeipräsident. Rund 40 Plakate haben die Aktivisten in den Quadraten angebracht, zur angemeldeten Demo rechnen die Veranstalter mit 200 Teilnehmern. Sollte es zum Prozess kommen, will die Initiative Kundgebungen abhalten.
Was die Polizei ein Jahr nach dem verhängnisvollen Einsatz für Lehren zieht und ob der Vorfall noch Stadtgespräch ist? Auf Anfrage meldet sich Polizeipräsident Siegfried Kollmar direkt zurück und erklärt: An seiner Betroffenheit über den tragischen Vorfall hat sich nichts geändert, spricht er erneut sein Beileid für die Angehörigen aus.
Neue Kooperation mit Hochschule
Er wolle sich weiterhin neutral halten, bis die Justiz zu einem Urteil komme. Auch die Polizei warte nun auf die juristische Aufarbeitung und einen Termin für eine mögliche Verhandlung, „aber die Justiz lässt sich nicht drängen, das ist auch gut so“, sagt Kollmar. Seine Bilanz zum Jahrestag: „Es war ein schwieriges Jahr, aber wir als Polizei haben alles daran gesetzt, den Vorfall neutral aufzuarbeiten und gleichzeitig auch die Kollegen in Schutz zu nehmen. Damit am Ende des Tages keine Vorbehalte gegen die Polizei stehenbleiben“, so Kollmar. Er habe besonders im Innenstadtrevier mit allen Dienstgruppen Gespräche geführt, hat heute den Eindruck: Sowohl die Einsatzkräfte als auch die Bevölkerung haben den Vorfall verarbeitet. Die Beamten würden noch vereinzelt darauf angesprochen, gibt es laut Präsidium keine Anfeindungen mehr.
Weil das Polizeipräsidium (PP) Mannheim viele Einsätze am ZI verzeichnet sowie für zwei weitere psychiatrische Einrichtungen wie das Psychiatrische Zentrum Nordbaden in Wiesloch und die Klinik für Allgemeine Psychiatrie in Heidelberg zuständig ist, hat das PP eigene Fortbildungen im Umgang mit psychisch kranken Menschen intensiviert – steht im regelmäßigen Austausch mit den Einrichtungen. Neu ist eine weitere Kooperation zwischen der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg und der H 4-Wache, zu der man sich nach „dem tragischen Fall am Marktplatz“ zusammengeschlossen hat, so ein Sprecher. Weiterhin laufen Fortbildungen zwischen Personal des ZI und der H 4-Wache „anlässlich konkreter gemeinsamer Einsatzanlässe“.
Der Fall und seine Folgen
- Am 2. Mai 2022 kommt ein 47-jähriger psychisch kranker Mann bei einem Polizeieinsatz am Marktplatz ums Leben. Der Fall löst weit über Mannheim hinaus Trauer und Entsetzen aus. Grund dafür sind auch ins Netz gestellte Videoschnipsel, auf denen ein Polizist zu sehen ist, der mehrfach auf den am Boden liegenden Mann einschlägt.
- Falschinformationen kursieren im Netz, in der Innenstadt demonstrieren Menschen gegen Polizeigewalt. Eine Debatte darum entsteht, ob die Polizei generell gut genug auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen vorbereitet ist.
- Polizeipräsident Siegfried Kollmar suspendiert zwei Tage nach dem Vorfall beide Mitarbeiter vom Dienst, Disziplinarverfahren werden eingeleitet. Als unabhängige Behörde übernimmt das Landeskriminalamt (LKA) die Ermittlungen, befragt über 70 Zeugen, sichtet 120 Videoschnipsel.
- In der Stadt müssen sich die restlichen Polizisten für dem Fall rechtfertigen, erleben verbale Anfeindungen, werden die Namen der beiden Polizisten im Internet veröffentlicht – was die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisiert.
- Kommunikationsstreifen sollen im Viertel die angespannte Stimmung entschärfen. Die Polizei führt Gespräche mit Migrantenvertretern, Gewerbetreibenden und jungen Menschen, kündigt weitere Schulungen für Beamte im Umgang mit psychisch Erkrankten an.
- Mitte September, vier Monate nach dem Einsatz, wird bekannt: Der Tod des Mannes sei „nicht natürlich“ gewesen. Wenige Tage später werden im Innenausschuss des Landtags Polizeipräsident und Staatsanwaltschaft von den Abgeordneten befragt.
- Drei Monate später erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage: Gegen den einen, der geschlagen haben soll, wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge. Seinem Kollegen wirft die Behörde fahrlässige Tötung durch Unterlassen vor.
Auch am Status der beiden Beamten habe sich nichts geändert. „Nach wie vor gilt für beide die Unschuldsvermutung“, betont Kollmar. Einer der beiden Beamten arbeitet seit Dezember 2022 wieder im Innendienst. Der zweite ist weiterhin suspendiert: Grundlage für sein Disziplinarverfahren sei außerdem der Ausgang des juristischen Verfahrens. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft Körperverletzung im Amt mit Todesfolge vor.
„Bislang ist noch nicht einmal entschieden, ob es überhaupt zu einer Verhandlung bei Gericht kommt. Das Warten belastet auch die betroffenen Beamten zusätzlich zum tragischen Einsatz. Am Ausgang des Verfahrens hängt ferner deren berufliche Zukunft“, sagt Thomas Mohr, Vorsitzender der Mannheimer Gewerkschaft der Polizei (GdP). Schließlich drohe bei einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, bei Rechtskraft des Urteils, die Beendigung des Beamtenverhältnisses, also die Entlassung aus dem Polizeidienst.
Weil es bei dem Vorfall auch um die Rechtmäßigkeit des staatlichen Gewaltmonopols – der Anwendung von unmittelbarem Zwang – geht, sei es besonders wichtig, akribisch und zeitintensiv zu ermitteln, sich nicht unter Druck setzenzulassen. „Ich habe vollstes Vertrauen in die Justiz“, sagt der GdP-Chef. Außerdem will die GdP nun 120 Fälle strafrechtlich verfolgen, in denen Nutzer in den sozialen Medien Hass und Hetze gegen die betroffenen Beamten betrieben hatten, so Mohr.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Der Marktplatz-Prozess muss gründlich, aber nicht ewig vorbereitet werden