Medizin

Innovation im Mannheimer Uniklinikum rettet Leonie in Mamas Bauch das Leben

Leonie wurde die Diagnose „Spina bifida“ im Mutterleib gestellt. Ein Schock für die Eltern. Mit einem ungewöhnlichen Eingriff half ein Mannheimer Arzt.

Von 
Waltraud Kirsch-Mayer
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Glückliche Gesichter im Klinikum nach der Operation eines Zwillings: Thomas Kohl, Florian Kipfmüller und Mutter Jessica Bender mit Stationsschwester Sandra Wolter-Stephan. © Pressefotoagentur Thomas Tröster

Mannheim. Leonie hebt ihr Beinchen und wackelt mit den Zehen, wenn sie gekitzelt wird – keine Selbstverständlichkeit für einen Säugling mit der Diagnose „Spina bifida“, auch „offener Rücken“ oder „Spaltwirbel“ genannt. Das Mädchen hatte Glück: Noch vor der Geburt verschloss Fetalchirurg Thomas Kohl die gefährliche Spalte mit einer Art „Pflaster“ aus Kollagen. Das Ungewöhnliche bei Leonies Eingriff mit schonender „Knopflochchirurgie“: In Mamas Bauch reifte noch ein Zwillingsbruder heran.

Allein am Mannheimer Universitätsklinikum (UMM), wo Thomas Kohl das von ihm aufgebaute „Deutsche Zentrum für Fetalchirurgie & minimalinvasive Therapie“ leitet, hat der Pionier vorgeburtlicher Operationen ohne blutigen Bauchschnitt seit 2018 bei mehr als 80 Babys einen offenen Rücken mit einem „Verschluss-Flicken“ versehen.

An Zwillinge, bei denen ein Geschwisterchen betroffen ist, hatte er sich bislang noch nicht gewagt – auch sonst niemand in Europa. „Extrem wenig Platz“ umschreibt Kohl die Herausforderung. „Außerdem muss ja durch den Fruchtsack des anderen Kindes operiert werden.“ Und natürlich gelte es, der Verantwortung für den gesunden Zwilling gerecht zu werden.

Eine „Schockdiagnose“ für das Paar

Als Jessica Bender, die mit ihrer Familie in Neuwied lebt, bei ihrer zweiten Schwangerschaft das Ersttrimester-Screening wahrgenommen hat, erfuhr sie nicht nur, Zwillinge zu erwarten, „es kam auch die Schockdiagnose“. Der Verdacht „Spina bifida“ bei einem der beiden Babys sollte sich im Bonner Uniklinikum bestätigen.

Bei der medizinischen Beratung, erzählt die Mutter, ging es um Optionen: entweder einen Abbruch vornehmen oder die Schwangerschaft fortsetzen und das Kind mit der Fehlbildung nach der Geburt operieren. Zwar hatten die Benders beim Recherchieren von der Möglichkeit eines Verschlusses des offenen Rückens noch im Mutterleib gelesen, „aber alle Ärzte sagten uns, so etwas geht bei Zwillingen nicht“.

Einblicke ins Bauchinnere. © Mannheimer Universitätsklinikum (UMM)

Gleichwohl nahm die 31-Jährige mit Thomas Kohl Kontakt auf, schickte Befunde und Bilder. Nach ersten Telefonaten reiste das Paar zu einem Gespräch nach Mannheim. Aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft blieben nur einige Tage zum Überlegen.

90 Prozent entscheiden sich nach der Diagnose für eine Abtreibung

„Wir haben uns als Familie zu dem Eingriff entschlossen, um Leonie später mehr Lebensqualität zu geben“, sagt Jessica Bender und fügt hinzu: Eine Abtreibung hätten sie und ihr Mann nicht in Betracht gezogen, weil es ja auch um die Zukunft von Mika, dem anderen Zwilling, gegangen ist. Fetalchirurg Kohl weiß, dass bei ihm nur eine kleine Gruppe werdender Eltern Rat sucht. Denn über 90 Prozent entscheiden sich nach der Diagnose „Spina bifida“ zu einer Abtreibung.

Bei der OP im Universitätsklinikum Mannheim. © Mannheimer Universitätsklinikum

Bei Leonie ist während der 27. Woche von außen durch winzige OP-Röhrchen der Wirbelspalt mit einem kreisrunden „Flicken“ abgedichtet worden – mit dem Ziel, die noch vorhandene Beweglichkeit der Beine zu erhalten. Inzwischen weiß man: Wenn Wirbelkörper nicht komplett verschlossen sind, bilden sich im Verlauf der Schwangerschaft zunehmend Folgeschädigungen wie Lähmungen, Fußfehlstellungen oder auch Stau von Hirnwasser aus. Und je länger Fruchtwasser hervorquellendes Rückenmark umspült, umso mehr wird an dem Spalt befindliches Nervengewebe zerstört. Wobei die jeweilige Lage an der Wirbelsäule eine zentrale Rolle spielt.

Geburt erfolgreich hinausgezögert

Nachdem Leonie ihren schützenden „Flicken“ aufgenäht bekommen hat, galt es, die Geburt mindestens bis zur 30. Woche hinauszuzögern. „Es hat so sogar komplikationslos bis zu 35. Woche geklappt“, berichtet Jessica Bender. Per Kaiserschnitt erblickten die Zwillinge mit 1900 und 2500 Gramm das Licht des Kreissaales, wo jedes Baby von einem spezialisierten Kinderarzt empfangen wurde. Das war am letztjährigen 27. Dezember.

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Auf der Station liegen sechs Säuglinge mit einem vorgeburtlich verpassten Verschlusspflaster auf dem Rücken – darunter auch das Baby einer Ukrainerin, die mittels Unterstützer in das UMM-Spezialzentrum kam. Aus ganz Europa suchen aufgewühlte (werdende) Mamas und Papas den Rat von Thomas Kohl, den das „Deutsche Ärzteblatt“ als „einen der erfahrensten Fetalchirurgen weltweit“ bezeichnet. Der Pionier betont, wie wichtig das gesamte Team ist. Beispielsweise die von Florian Kipfmüller geleitete Neonatologie und all die Spezialisten für die Nachsorge.

Studie zeigt den Erfolg des Eingriffs

Eine Studie hat das Schicksal betroffener Mädchen und Jungen bis in die Schulzeit nachverfolgt. Das Ergebnis fasst das „Ärzteblatt“ so zusammen: „Kinder mit der Diagnose Spina bifida profitieren erkennbar und nachhaltig davon, wenn ihr offener Rücken bereits im Mutterleib – statt erst nach der Geburt – chirurgisch geschlossen worden ist.“

Nicht nur die motorische Entwicklung, wie Gehen, verlaufe häufig weit günstiger. Auch das Risiko für Hirnwasser-Ansammlungen vermindere sich deutlich. Thomas Kohl kennt aber auch die Grenzen: Schon vor dem Eingriff entwickelte Lähmungen, betont er, lassen sich ebenso wenig rückgängig machen wie ein schon fortgeschrittener Wasserkopf. Leonie hatte Glück – sie bekam in Mamas Bauch das schützende Pflaster rechtzeitig.

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