Mannheim. 1949 ist ein ereignisreiches, ja visionäres Jahr. Die Bundesrepublik Deutschland wird gegründet, das Grundgesetz verkündet. Weil damals die Erkenntnis beflügelt, dass Erfindergeist auch und gerade in Ruinen ein wichtiger Rohstoff ist, wird in München die Fraunhofer-Gesellschaft etabliert. Und die eröffnet fünf Jahre später in Mannheim ihr erstes eigenes Institut - nämlich für Mikroskopie, Photographie und Kinematographie. Und so kommt es, dass Fraunhofer in der Quadratestadt, wo es heute mit einer Abteilung für Gesundheitstechnologien präsent ist, Doppel-Jubiläum feiert: 75-Jähriges der Forschungsorganisation und 70-Jähriges seiner Institute mit Start in der Rhein-Neckar-Metropole am 1. Juni 1954.
Die Fraunhofer-Gesellschaft
- Die international tätige Fraunhofer-Gesellschaft mit Sitz in München betreibt in Deutschland 76 Institute und Forschungsstätten mit knapp 32 000 Beschäftigten.
- Jährliches Finanzvolumen: 3,4 Milliarden Euro, davon als größter Brocken Vertragsforschung. Dazu kommen Industrieaufträge. Bund und Länder gewähren eine Grundfinanzierung.
- Namensgeber ist Joseph von Fraunhofer (1787 bis 1826). Der Optiker entwickelte Mikroskope und Fernrohre, mit denen er die Spektrallinien im Sonnenlicht entdeckte. Weil er auch als Unternehmer erfolgreich war, wählte ihn die 1949 gegründete Gesellschaft als Vorbild für angewandte Forschung mit wirtschaftlicher Vermarktung im Blick. wam
Rückblickend erscheint ziemlich mutig, dass Fraunhofer sein Pionier-Institut in einer stark zerstörten Stadt eröffnete: in einer Villa an der Mollstraße. Das Nobelgebäude war zwar im Krieg von Bomben getroffen, aber wieder aufgebaut worden. Der legendäre Architekt Hermann Billing - von ihm stammt der Jugendstil-Entwurf für die Kunsthalle am Wasserturm - hatte die 1906 fertiggestellte Doppelvilla prunkvoll geplant. Bauherr war August Grün, der zusammen mit Bilfinger-Brüdern den Erfolg jener Mannheimer Baufirma vorangetrieben hatte, die seinerzeit „Grün & Bilfinger AG“ hieß.
Fraunhofer-Gesellschaft: Siebenköpfiges Team forscht zu Beginn in der Grün’schen Villa in Mannheim
Als ein siebenköpfiges Fraunhofer-Team in der Grün‘schen Villa mit Forschen begann, absolvierte eine junge Frau vom Lindenhof eine Ausbildung rund ums Mikroskopieren - die 19-jährige Gisela Bilfinger. Ihr Vater Wilhelm Bilfinger, Vorstand des Bauunternehmens, hatte den Institutsleiter überredet, eine solche Lehrstelle zu schaffen. „Dafür gab es damals überhaupt kein Vorbild. Und deshalb hatte ich auch keinen Berufsschulunterricht, führte aber ein Lehrheft“, blickt die heute 89-Jährige zurück.
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Aus heutiger Sicht muten ihre Schilderungen kurios an - vor allem, was die Örtlichkeit betrifft: Saalartige Räume mit Publikumsgalerie, Schiebetüren und knarzendem Parkettboden dürften in wissenschaftlichen Einrichtungen längst nostalgischer Vergangenheit angehören. „Dafür hatten wir die technisch neuesten Geräte, viele von Zeiss“, erinnert sich Gisela Bilfinger-Spieß und berichtet von renommierten Auftraggebern aus der Industrie. Institutsleiter Horst Reumuth, ein Ingenieur-Professor, erforschte mit seinem fachübergreifenden Team aus den Bereichen Chemie, Physik, Biologie und Fotografie beispielsweise „Methoden der praktischen Textilmikroskopie“, insbesondere bei neu entwickelten Fasern wie dem wasserabweisendem „Ninoflex“ als Regemantelstoff.
„Weltweit berühmt, daheim fast unbekannt“ titelte der „MM“ fünf Jahre nach Eröffnung und verwies auf mehr als 50 Beiträge in wissenschaftlichen Publikationen. Als die Forschungsstätte in den 1960ern nach Karlsruhe umsiedelte und in einem dortigen Ableger der Gesellschaft aufging, war die erste Auszubildende des Fraunhofer-Pionierinstituts nicht mehr dabei - sie hatte geheiratet und zog nach Ludwigshafen, wo sie nach wie vor wohnt.
2011 sollte Fraunhofer, inzwischen größte Organisation für angewandte Forschung, in die Quadratestadt zurückkehren. Diesmal auf den Campus der Universitätsmedizin. Die Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie , kurz „PAMB“ , entwickelte einen Hybrid-Operationssaal, in dem neue Hightech-Verfahren samt komplexen Abläufen auf den Prüfstand kommen.
Rückkehr von Fraunhofer nach Mannheim unter dem Motto: „Die Zukunft operiert in Mannheim“
Das Motto dabei: „Die Zukunft operiert in Mannheim.“ Als kräftigen Schub für den Medizintechnik-Standort förderte das Land Baden-Württemberg die ersten fünf Aufbaujahre von „PAMB“ mit 9,3 Millionen Euro, 2017 legte es eine weitere Million nach.
„Wir konzentrieren uns auf zukunftsweisende Themen im Bereich der Digitalisierung rund um Gesundheitstechnologien“, erläutert Jens Langejürgen, seit 2021 Leiter der Mannheimer Forschungsabteilung, die beim Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart angedockt ist. Der Physiker nennt als eine Technologie, „die den Alltag in medizinischen Einrichtungen revolutionieren kann“, das Projekt „Tedias“ ( „Test- und Entwicklungszentrum für digitale Anamnese-Systeme“). Dahinter steht die Idee, medizinische Erstaufnahmen derart zu automatisieren, dass diese weitgehend unabhängig von Personal abläuft. Beispielsweise könnte ein mit sensibler Messtechnik ausgestatteter Sitzplatz Vitalfunktionen wie Körpertemperatur oder Herz- und Atemfrequenz aufzeichnen und obendrein per Mikrofon Atemgeräusche aufnehmen. Als Herzstück soll ein Avatar fungieren, der digital Routinefragen stellt und die Antworten speichert.
Optimale Voraussetzungen in Mannheim für Fraunhofer-Modell
Wissenschaftlicher Transfer soll anwendungsorientiert und maßgeschneidert erfolgen - dieses Prinzip kennzeichnet das auf Kooperation setzende Fraunhofer-Modell. Dafür „gibt es in Mannheim optimale Voraussetzungen“, schwärmt Langejürgen geradezu und verweist auf den Austausch mit der Universitätsmedizin vor Ort, auf die Unterstützung des Medizintechnik-Clusters, außerdem auf ein starkes Netzwerk in der Rhein-Neckar-Region. Zur Erfolgsgeschichte gehören auch Patente und Ausgründungen. So ist die von Vibrosonic als „Kontaktlinse fürs Ohr“ gebaute Hörhilfe in Mannheim durchgestartet. Und manch eine allseits bekannte Erfindung ist eng mit Fraunhofer verknüpft: ob der Airbag als Sicherheitsluftkissen im Auto oder das MP3-Format zum Komprimieren von Musik.
Die Geschichte der Forschungsgesellschaft zeigt, wie sich Schlüsseltechnologien wandeln. Mikroskope, denen sich in Mannheim das Fraunhofer-Pionierinstitut widmete, sind bis heute mannigfach im Einsatz, gleichwohl haben bildgebende Digital-Verfahren dem um 1600 vermutlich von einem niederländischen Brillenschleifer ausgetüftelten Durchblick-Gerät mit Vergrößerungseffekt den Rang abgelaufen.
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