Mannheim. Seinen 85. Geburtstag feierte er im Januar - Franz Müntefering, der frühere Vize-Kanzler, SPD-Vorsitzende und Bundesminister, der als Urgestein der Sozialdemokraten gilt. Mit dieser Redaktion sprach der Botschafter des 14. Deutschen Seniorentages, der am Mittwoch, 2. April im Rosengarten startet, über das Thema Alter und seine ungebrochene Liebe zum Leben, die Gedanken übers Sterben nicht ausschließt.
Herr Müntefering, dieses Interview sollte eigentlich via Postweg laufen. Weil der Brief mit den Fragen nach drei Tagen immer noch nicht bei Ihnen angekommen ist, haben wir telefoniert. Dass ein Mann, der wie Sie noch ziemlich in der Öffentlichkeit präsent ist, ohne PC und Mail-Account auskommt, verblüfft. Wie kriegen Sie das hin?
Franz Müntefering: Früher hatte ich ein richtiges Büro. Und jetzt gibt es Leute, die mir helfen. Technik war noch nie mein Ding. Ich schreibe mit der Hand oder tippe auf einer kleinen Triumph-Schreibmaschine. Und natürlich telefoniere ich viel. Keine Mailadresse zu haben, hat auch Vorteile. Es ermöglicht, sich abschotten zu können - nicht für jeden erreichbar zu sein.
Als Botschafter des 14. Seniorentages wollen Sie über „die Verletzlichkeit des Alters“ sprechen. Könnten Sie schon mal vorab kurz umreißen, was damit gemeint ist?
Müntefering: Ich werde darüber sprechen, dass zwar nichts mehr selbstverständlich ist – dass das Alter aber auch große Chancen bringt, die es zu nutzen gilt. Man muss jedoch lernen, älter zu sein, mit der Zeit, die einem bleibt, etwas anzufangen. Also, ich bin ganz gern alt. Eigentlich vermisse ich nichts.
„Vom Standpunkte der Jugend aus gesehen, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkte des Alters aus, eine sehr kurze Vergangenheit“, sinnierte einst der Philosoph Schopenhauer, der einige Jahre in Mannheim gelebt hat. Was bedeutet für Sie Zukunft?
Müntefering: Gegenwart mit Blick auf die Zukunft. Dass ich das Leben, das ich noch habe, mutig und bewusst lebe. Wie viel das sein wird, weiß ich natürlich nicht. Bei mir rollt der Tag schon nach dem Aufstehen an – beispielsweise mit Gymnastik. Zukunft bedeutet auf jeden Fall, das Heute nutzen. Und dazu gehört, mit anderen sprechen, in Kontakt bleiben. Der Mensch braucht Menschen. Und die habe ich glücklicherweise.
Eine Zeit, selbst erlebt zu haben oder darüber zu lesen – das ist nicht das Gleiche.
Was möchten Sie an nachfolgende Generationen weitergeben?
Müntefering: Erlebtes, Erfahrungen – aber ohne Lehrerhaftigkeit. Ich bin 1940 geboren, habe Krieg, Bomben, Hunger und einen Papa erlebt, der spät aus der Gefangenschaft kam. Ich habe als Kind erstmals einen Menschen mit schwarzer Haut gesehen, und als der mir weißes Brot schenkte, fragte ich meine Mutter, ob ich das von einem Feind annehmen dürfe. Und die hat gesagt, das sind jetzt unsere Freunde. Wenn ich meine ersten drei Kleinkindjahre ausklammere, besteht meine wahrgenommene Gegenwart aus 82 Jahren. Und davon habe ich nichts zur Seite geschoben. Es gibt also viel zum Weitergeben. An jene, die deutlich jünger sind. Eine Zeit, selbst erlebt zu haben oder darüber zu lesen – das ist nicht das Gleiche.
Ihr aktuelles Buch „Nimm das Leben, wie es ist. Aber lass es nicht so“ ist eine Liebeserklärung an das Leben. Was haben Sie als Mittachtziger losgelassen und was möchten Sie auf keinen Fall (unter-)lassen?
Müntefering: Geschwindigkeit – dass alles schnell, schnell gehen muss, davon habe ich mich verabschiedet. Aber auf keinen Fall möchte ich Neugierde und schon gar nicht Freundschaften aus meinem Leben entlassen. Offen bleiben, das ist auch und gerade im Alter wichtig. Und dazu gehört, sich Hilfe zu holen und anzunehmen, wenn man welche braucht. Das ist für mich geradezu ein Leitsatz. Übrigens auch für Jüngere. Und grundsätzlich gilt: Das Leben ist so gut und schön, wie wir es machen. Wir sollten nicht vergessen, dass es sich um eine einmalige Chance handelt. Ohne Zweitversuch.
In meiner Heimat, dem Sauerland, sagt man, übers Sterben müsse man nicht sprechen, weil der Tod von selbst komme. Das sehe ich anders.
Auch wer im Alter leidenschaftlich gern lebt, kommt an dem Thema Sterben und Tod nicht vorbei.
Müntefering: In meiner Heimat, dem Sauerland, sagt man, übers Sterben müsse man nicht sprechen, weil der Tod von selbst komme. Das sehe ich anders. Für mich ist das Sterben Teil des Lebens. Und dies sollte man reflektieren. Ich habe meine Mutter und meine Frau am Ende begleitet. Das waren sehr intensive Zeiten. Natürlich weiß niemand, wann es bei einem selbst so weit ist. Ich hoffe, dass ich dann nicht allein bin.
Herr Müntefering, Sie kennen den Mannheimer Rosengarten nur zu gut – von dem Putsch-Parteitag 1995, als die SPD ihren Vorsitzenden Rudolf Scharping abwählte und Oskar Lafontaine bei der Kampfabstimmung klar siegte. Sie waren damals frisch bestallter Bundesgeschäftsführer der SPD.
Müntefering: Ja, ich war damals auch in dem emotionalen Getümmel und erinnere mich noch sehr gut, habe unvergessliche Bilder im Kopf. Johannes Rau, der später Bundespräsident wurde, dem liefen Tränen über die Backe. Und ich war granatenmäßig wütend.
Haben Sie beim Mannheimer Seniorentag einen Gastauftritt oder verfolgen das gesamte Programm, das bis zum 4. April läuft?
Müntefering: Ich reise schon am 1. April an und bleibe bis zum Schluss. Da kriege ich natürlich auch was von der Stadt Mannheim mit.
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