Mannheim. Der Mann, der hinter Pancho Mendez steht, entlädt seine Waffe. Mendez hört, wie der Kolben gespannt wird, bereit, die Kugel durch den Lauf zu jagen. Ihn zu töten. Der Mann drückt ab. Der Kolben schnellt vor. Aber es kommt keine Kugel. Kein Tod. Das Magazin ist leer. An diesem Tag, in diesem Moment sollte Mendez nur glauben, er müsse sterben.
Was sich wie ein Thriller liest, ist passiert. Scheinhinrichtungen, andere Folterungen, Menschenrechtsverletzungen sowie politische Morde sind Alltag in Chile, nachdem General Augusto Pinochet am 11. September 1973 – vor 50 Jahren – gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvadore Allende putscht. Während sich Allende noch an diesem Tag das Leben nimmt, führt Pinochet das Land an der Westküste Südamerikas in die brutale Diktatur.
Das Militär wollte uns brechen.
Es falle ihm nicht leicht, über das zu sprechen, was sein Leben und das Tausender verändert habe, sagt Pancho Mendez heute. „Ich bin traumatisiert.“ Er müsse aber darüber sprechen, sagt er auf seiner Terrasse über den Dächern der Neckarstadt. „Das Militär wollte uns brechen.“
Hier, auf seiner Terrasse, verbringt Pancho, wie ihn alle nennen, viel Zeit. Man sitzt im Grünen, an den Pflanzen hängen Chilis aus Südamerika, die er stolz zeigt. „Die Menschen müssen erfahren, was in dieser dunklen Zeit in Chile passiert ist – auch die in Mannheim.“
„Der Putsch lag in der Luft“
Pancho heißt eigentlich Francisco Leopoldo Mendez Rodriguez und wird am 7. Dezember 1947 geboren. Am 4. September 1970 wird Allende Präsident. Der Sozialist gewinnt die Wahl gegen den Rechten Jorge Alessandri: 36,29 Prozent zu 35,76 Prozent. Der Christdemokrat Radomiro Tomic erhält 27,9 Prozent. Das Land ist stark polarisiert.
Pancho arbeitet beim Indap, dem Instituto de Desarrollo Agropecuario. „Ich habe Bauern und Ureinwohner unterstützt“, erklärt er seinen Anteil an der Agrarreform. Im Zuge derer werden Flächen von Großgrundbesitzern an Landwirte und das Kollektiv übergeben. Eine Form der Enteignung. „Wir haben Kindern Bildung ermöglicht und Kooperationen mit Bauern geschlossen, um sie zu schulen.“ Pancho bringt Landwirte auch zusammen, damit die Abgeordnete wählen, die Interessen der Bauern vertreten.
Nach positiven Entwicklungen zu Beginn der Ära Allende steigen Inflation und Arbeitslosigkeit. Im Kalten Krieg beobachten die USA die antikapitalistische Politik kritisch, boykottieren sie. Der CIA finanziert im Herbst 1972 einen wochenlangen Streik chilenischer Lastwagenfahrer.
Am 11. September 1973 ändert sich das Leben in Chile. „Pancho, weißt du, dass das Militär nach Santiago fährt“, erinnert er sich an einen Anruf eines Bekannten in den Morgenstunden. Das bedeute etwas, soll der Anrufer noch gesagt haben.
Ich werde die Bilder nie vergessen. Mein Leben lang nicht.
Wenige Stunden später verliest Pinochet als Oberbefehlshaber eine Erklärung der selbst ernannten Militärregierung. Um 11 Uhr meldet sich Allende im Radio. „Höchstwahrscheinlich das letzte Mal“, wie er erklärt. Er ruft auch zum Durchhalten auf. „In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit meinem Leben bezahlen.“ Zurücktreten aber, wie es die Putschisten fordern, werde er nicht. „Es lebe Chile. Es lebe das Volk. Es leben die Werktätigen. Das sind meine letzten Worte, und ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht vergeblich sein wird. Ich habe die Gewissheit, dass es zumindest eine moralische Lektion sein wird, die den Treuebruch, die Feigheit und den Verrat verurteilt.“
Was am 11. September 1973 in Chile passiert ist
- Der 1908 geborene Sozialist Salvador Allende gewinnt im September 1970 mit Unterstützung des Linksbündnisses Unidad Popular die Präsidentschaftswahlen.
- Allende führt Chile wirtschaftspolitisch nach links, was im Kalten Krieg besonders der USA missfällt. Der CIA ist an verdeckten Operationen in Chile beteiligt, auch um die Wirtschaft zu schwächen.
- Augusto Pinochet, geboren 1915, macht Karriere im Militär. Im August 1973, wenige Wochen vor dem Putsch, ernennt ihn Allende zum Oberbefehlshaber. Zuvor war es im Zuge der schwachen Wirtschaft bereits zu innenpolitischen Spannungen gekommen.
- Am 11. September 1973 putscht das Militär gegen Allende, der sich das Leben nimmt. Pinochet wird Vorsitzender einer Militärjunta.
- Pinochet werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Nach einem Plebiszit dürfen bei den Wahlen 1989 mehrere Kandidaten antreten. Die Transition – der Übergang zur Demokratie – führt dazu, dass Pinochet nach der Wahl als Präsident am 11. März 1990 abgelöst wird. Offizielle Zahlen gehen von mehr als 3000 während der Diktatur ermordeten und verschwundenen Menschen aus.
- Pinochet stirbt am 10. Dezember 2006 mit 91 Jahren vor Abschluss eines Prozesses gegen ihn – er wird juristisch nie verurteilt.
Pancho will nach der Ansprache, erinnert er sich, zum Präsidentenpalast. Wegen eines Kongresses ist er in der Hauptstadt Santiago. Für viele sei die Eskalation überraschend gekommen. „Für uns nicht“, sagt Pancho und berichtet von Gesprächen mit Kollegen. „Der Putsch lag in der Luft.“ Panzer sperren den Weg zum brennenden Palast ab, in dem sich gegen 14 Uhr Allende erschießt. „Ich werde die Bilder nie vergessen. Mein Leben lang nicht“, sagt Pancho. Ihm gehen die Erinnerungen noch nahe.
„Haben das mit Kindern gemacht“
Der herzliche Mann mit den langen, ergrauten Haaren aber behält die Fassung. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Heft mit Notizen. Hin und wieder schielt er darauf – viele Erinnerungen aber sind ihm präsent.
Nach dem Staatsstreich entlässt Pinochet alle Staatsbediensteten, zu denen auch Pancho gehört, der verheiratet und Vater einer kleinen Tochter ist. Verhaftungswellen folgen. Pancho findet dennoch unter falschem Namen Arbeit. Das währt nicht lange. „Am 6. Mai 1974 hat mich das Militär erwischt.“
Ein Tribunal verurteilt ihn zu fünf Jahren Haft. „Ich habe meinen Job gemacht, das war legal. Das, was die am 11. September gemacht haben, war nicht legal.“ Es fällt Pancho hörbar schwer, über die Zeit der Haft zu sprechen. „Manchmal haben sie uns mitgenommen und gefoltert.“ Außer den Scheinhinrichtungen erfährt man nicht ganz genau, was er und andere noch haben erleiden müssen. Es fallen eher Stichworte als Sätze: „Sie haben uns kein Wasser gegeben“, ist eine solche Andeutung. „Schmerzen durch Strom“ eine andere. „Manchmal haben wir geweint oder geschrien“, erzählt er. „Frauen und Kinder auch. Die haben das auch mit Kindern gemacht.“
Während er gefoltert wird, verhandeln internationale Organisationen über die Freilassung politisch Inhaftierter. Davon berichtet auch die Mannheimer Bundestagsabgeordnete Isabel Cademartori, deren Großvater José Wirtschaftsminister unter Allende war und in Haft saß. „Es gab international viel Druck auf Pinochet, politische Gefangene freizulassen“, sagt die SPD-Politikerin.
Kirchen, das Internationale Rote Kreuz oder auch Amnesty International engagieren sich. Eines Tages, erzählt Pancho, habe ihn ein Bischof besucht. „Ich werde diesen Tag und diesen Mann nie vergessen.“ Der Geistliche habe erklärt, Pancho erhalte Asyl. „Du hast die Wahl zwischen Frankreich und Deutschland“, soll er gesagt haben. Pancho entscheidet sich für das Land, aus dem sein Opa stammen soll, den er kaum kennt.
Im November 1976 fliegt Pancho nach Stuttgart. Seine Frau und Tochter bleiben zurück. „Viele Frauen haben nicht mit ihren Männern mitgezogen.“ Er erhält in Chile einen Pass, der ihm die Einreise in das Land untersagt. Elf Jahre werden vergehen, bis er seine Tochter wiedersieht, als die Deutschland besucht.
Auf der ganzen Welt verstreut
1988 entscheidet eine Mehrheit der Chilenen in einem Plebiszit, dass bei der Präsidentschaftswahl 1989 Pinochet nicht der einzige Kandidat sein dürfe, und besiegelt damit auch das Ende der Diktatur. Pancho darf Ende der 1980er-Jahre wieder ins Land reisen. Er besucht – gegen den Willen seiner besorgten Mutter – seine Familie und macht Fotos, die er später in Deutschland ausstellt.
Die Liebe bringt Pancho um die Jahrtausendwende nach Mannheim. „Meine liebe Kurpfälzerin“, wie er seine Frau nennt, kommt aus Neckarau. Sie lernen sich bei einem Tangokonzert kennen, gründen eine Familie. Aber nicht nur in seine „Kurpfälzerin“, auch in die Stadt habe er sich verliebt. „Die Mischung der Kulturen, die Dialekte, die vielen Arbeiter.“ Kontakt zu Mitstreitern oder Menschen, die mit ihm gefoltert wurden, hat Pancho nicht mehr. „Wir sind auf der ganzen Welt verstreut. Schade.“ Man hätte sich sicherlich viel zu erzählen.
Das politische Interesse hat Pancho nie losgelassen. Seit 23 Jahren moderiert er im Bermudafunk zweimal im Monat „Latino mit Pancho“ – auf Spanisch und Deutsch. Südamerika besucht er nur noch als Gast. „Das Chile, das ich kenne, gibt es nicht mehr.“ Die Eingriffe, auch ausländischer Firmen, in Natur und Lebensräume der Ureinwohner missfallen ihm. „Wir haben das Land damals gerechter gemacht“, sagt er.
Heute setzt sich Pancho mit seinem Verein Abya Yala aus Mannheim heraus für die Rechte der Ureinwohner und für den Erhalt der Natur ein. Auch rund um den Jahrestag hat er viele Veranstaltungen geplant. Der Name des Vereins geht auf die Ureinwohner Panamas zurück, die den amerikanischen Kontinent vor der Ankunft der Europäer Abya Yala nannten, erklärt Pancho – und schaut auf seine Chilis.
„Das Militär wollte uns brechen“, hat er da bereits vor mehr als einer Stunde gesagt. Pancho Mendez haben sie nicht brechen können.
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