Videoüberwachung - Modellprojekt mit Computerprogramm, das Straftaten herausfiltern soll, offiziell gestartet

„Europaweit einmalig“

Von 
Steffen Mack
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Kamera im Polizeipräsidium. Auf dem Bildschirm wurden gestern zum Pressetermin Aufnahmen der neuen Videokameras in der Stadt gezeigt. © Blüthner

Mannheim. Zwei junge Männer laufen vor dem Hauptbahnhof aufeinander zu. Der eine rempelt den anderen an. Sie bleiben stehen, man erkennt einen Wortwechsel. Plötzlich hebt einer den Fuß, tritt dem anderen voll vor die Brust und geht weiter. Das ist der Moment für das Computerprogramm. Bewegungen werden von ihm automatisch erfasst und analysiert. Es erkennt den Tritt, filtert die Szene heraus und macht einen Beamten im Kontrollraum darauf aufmerksam. Der schickt sofort eine Streife. So jedenfalls der Plan.

Mit der Vorführung des Videos von dem gestellten Vorfall ist gestern in Mannheim offiziell ein Modellprojekt gestartet worden, das Landesinnenminister Thomas Strobl als „einmalig und erstmalig“ preist. Damit werde nicht nur die Polizei entlastet, sondern man zähle auch bei der Digitalisierung „ bundesweit zur Avantgarde“. Seine Minister-Kollegen aus den anderen Ländern hätten kürzlich alle „große Augen bekommen“, als er ihnen davon erzählt habe, schwärmt der Christdemokrat. So etwas gebe es sogar in ganz Europa sonst nirgendwo.

Hohe Kriminalität Voraussetzung

Christian Specht, der für Sicherheit zuständige Erste Bürgermeister, hat gerade am Rande einer Konferenz in Edinburgh herkömmliche Videoüberwachung gesehen. Dort stehe bei der Polizei eine riesige Wand voller Bildschirme, „es wird im Prinzip alles aufgezeichnet“. Dagegen würden mit dem neuen Programm Gesichter automatisch gepixelt und nur bei Straftaten identifizierbar gemacht. Das stärke den Persönlichkeitsschutz und sei ein deutlich geringerer Eingriff in die Grundrechte. Polizeipräsident Thomas Köber betont, dass der Computer nur verdächtige Szenen herausfiltern solle, aber keinen Einsatz auslösen könne: „Es entscheidet nicht die Maschine, es entscheidet der Mensch.“

Das Interesse an der neuen Technik scheint jedenfalls groß. Rund 40 Journalisten sind ins Polizeipräsidium gekommen, sonst liegt die Zahl bei Pressekonferenzen hier eher im einstelligen Bereich. Strobl, Specht und Köber erinnern daran, dass von 2001 bis 2007 mit Videokameras gute Erfahrungen gemacht habe. Im Laufe dieser Jahre sei die Straßenkriminalität an den erfassten Orten um 70 Prozent zurückgegangen.

Daraufhin mussten die Kameras – mit Ausnahme des Bahnhofvorplatzes – wieder abgehängt werden. Denn zulässig ist Videoüberwachung nur an von Kriminalität besonders betroffenen Orten. Das waren in den vergangenen Jahren auch Paradeplatz, Breite Straße, Marktplatz und Alter Meßplatz, die nun ebenfalls dabei sind. Hinzu kommen soll der Plankenkopf, wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind und Straftaten dort wieder zunehmen.

Aktuell sind laut Klaus Pietsch, Projektleiter bei der Polizei, bereits 34 der vorgesehenen 76 Kameras in Betrieb. Bis 2020 solle alles fertig sein, auch die intelligente Kameraüberwachung per Computer. Noch wird das vom Fraunhofer-Institut entwickelte Programm nur vor dem Bahnhof erprobt. Auf dem Bildschirm sieht man, wie es einstweilen damit beschäftigt scheint, Konturen von Menschen nachzuzeichnen. „Das wird dauern, bis es sich an die Datenmengen da draußen gewöhnt hat“, glaubt Pietsch. Bislang sei die Software nur im Labor erprobt worden, nun müsse sie sich in der Praxis entwickeln. Ob sie einmal in der Lage sein wird, zwischen einem freundschaftlichen Klaps und einem Schlag zu unterscheiden, kann der Projektleiter jetzt noch nicht sagen.

Die Verantwortlichen geben sich derweil Mühe, datenschutzrechtliche Bedenken zu zerstreuen. Bei Demonstrationen werde man die Kameras ausschalten, sagt Köber. Generell würden die Aufnahmen nach 72 Stunden überschrieben und so für immer gelöscht. Das System sei nicht mit dem Internet verbunden und „absolut sicher vor Hackern“.

Specht freut sich über die hohe Akzeptanz der Videoüberwachung. Er verweist auf die 85 Prozent, die sich gerade im „MM“-Bürgerbarometer dafür ausgesprochen haben. Strobl lobt die Stadt dafür, für die neuen Kameras fast 900 000 Euro bereitzustellen. Das Land übernehme die im Polizeipräsidium anfallenden Kosten. Der SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch geht indes davon aus, dass es noch einige Zeit dauere, bis das neue Computergrogramm voll einsatzfähig sei „und tatsächlich zu einer Entlastung der Mannheimer Polizei führt“.

Info: Fotostrecke und Video-Dossier unter morgenweb.de/sicherheit

Videoüberwachung

Modellprojekt in Mannheim

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Videoüberwachung: Auf fünf Jahre angelegter Modellversuch



  • Die Mannheimer Innenstadt soll von insgesamt 76 Videokameras überwacht werden, 64 fest fokussierten und zwölf schwenkbaren.
  • Standorte sind Bahnhofsvorplatz, Paradeplatz, Breite Straße, Marktplatz und Alter Meßplatz. Später soll noch der Plankenkopf – wegen der Bauarbeiten ging die Kriminalität dort zuletzt zurück – hinzukommen.
  • Aktuell wurden bereits 34 Kameras in Betrieb genommen. Bis zum Jahr 2020 sollen alle installiert sein.
  • Bisher werden die Kameras von Polizeibeamten an Bildschirmen im Präsidium kontrolliert. Mittelfristig sollen sie von einem Computerprogramm unterstützt werden, das verdächtige Szenen automatisch filtert.
  • Dieser gestern gestartete Modellversuch der intelligenten Überwachung ist auf fünf Jahre angelegt und nach Angaben des Stuttgarter Innenministeriums europaweit einmalig.
  • Die gespeicherten Daten werden nach 72 Stunden automatisch überschrieben, sofern man sie nicht in einem konkreten Fall benötigt.

Redaktion Steffen Mack schreibt als Reporter über Mannheimer Themen

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