Kommentar Können wir uns bitte wenigstens auf Weihnachten einigen?

Überall Frust und Spaltung: Die Gesellschaft geht verunsichert in die Festtage. Dabei entsteht ein überraschender, positiver Effekt, der weihnachtlicher kaum sein könnte, kommentiert "MM"-Chefredakteur Karsten Kammholz

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Karsten Kammholz
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Gäbe es Weihnachten noch nicht, müsste man es jetzt erfinden. Der Advent und die Geburt des Christkindes erzählen schließlich eine Geschichte von Aufbruch und Rettung, von Hoffnung und Optimismus – genau jenen Lebensthemen, die momentan so schwer zu fassen sind.

Stattdessen schlechte Nachrichten überall: Die Wirtschaft darbt, die Firmen blicken skeptisch auf 2024 und scheuen Investitionen. Die Menschen halten ihr Geld zurück. Was allenthalben fehlt, ist Vertrauen. Wen wundert’s?

Frust wird mit nach Hause genommen

Anstelle gerade jetzt in den selbstbewussten Wettbewerb der Ideen zu gehen und Lösungen zu suchen, begeben sich weite Teile der Gesellschaft in eine unheimliche Stille. Und die ist nicht mit Weihnachten begründbar. Die Überforderung mit den multiplen Unsicherheiten lässt viele verstummen. Der nachvollziehbare Frust wird dabei nicht mehr diskutiert, sondern mit nach Hause genommen. Der öffentliche Debattenton klingt zugleich jammernder als je zuvor.

Wer sich aktiv in Debatten einmischt, erlebt mitunter eine Verrohung des Diskurses tief hinein in bürgerliche Schichten. Die Haltung des Gegenübers wird verächtlich gemacht oder ins Lächerliche gezogen. Statt sich auf die Suche nach dem Gemeinsamen zu begeben, gefallen sich die meinungsführenden Akteure in hysterischer, despektierlicher Rhetorik mit ausgeprägtem Hang zu Verschwörungstheorien. Herablassung und Ignoranz entwickeln sich zur Alltagshaltung. Das kann nicht gutgehen.

Wer den konstruktiven, pragmatischen Weg gehen will, muss aber den Dialog wollen. Zuzuhören ist nun einmal anstrengend. Und dem Gehörten Raum zu geben und mit der eigenen Haltung abzugleichen, entwickelt sich zur seltenen Gesellschaftskunst.

Eine Gesellschaft muss zueinander finden

Die braucht es aber. Wie sonst wollen wir die gigantischen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen – von der Energiewende, über den Klimawandel, Fluchtbewegungen bis zu den Kriegen und seinen Folgen? Und wie künstliche Intelligenzen die Welt revolutionieren werden, lässt sich heute schon erahnen. Die Themen sind einfach zu groß für die allgemeine Kleingeistigkeit. Ohne Diskursethik zerstören wir die Demokratie und uns gleich mit. Eine Gesellschaft, die nicht zueinander findet, ist keine Gesellschaft mehr.

So schnell kommen wir aus den Krisen nicht heraus. Denn den Konsenswillen und die Bereitschaft, offen zu kommunizieren, muss zuerst die Politik vorleben. Auf die momentane Bundesregierung sollten wir dabei nicht bauen, sondern auf uns selbst.

Hat sich Weihnachten entschleunigt?

Die alljährliche Weihnachtsstudie der Bundeswehr-Universität München zeigt auf, wie ein positiver Umgang mit den Sorgen unserer Zeit funktionieren kann. Die überraschende Erkenntnis: Durch die Krisen sinken die Erwartungen an Weihnachten. Mehr Menschen gehen gelassener in die Festtage. Laut Studienleiter Professor Philipp Rauschnabel hat diese Personengruppe für sich Weihnachten ein Stück weit entmaterialisiert und entschleunigt.

Ist es nicht das, was Weihnachten immer sein sollte: eine Besinnung aufs Wesentliche – damit Neues erwachsen kann?

In einer Zeit ohne Sicherheiten bleibt diese Gewissheit: Kein anderes Fest lebt so sehr von Hoffnung und Zuversicht wie Weihnachten. Diesen Schatz sollten wir uns nicht nehmen lassen. Können wir uns alle wenigstens darauf einigen?

Frohe Weihnachten, liebe Leserinnen und Leser!

Ehemalige Mitarbeit ehem. Chefredakteur

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