Mannheim. Warum jeder, dem etwas an der eigenen Zukunft liege, dringender an der bevorstehenden Europawahl als an Bundestagswahlen teilnehmen sollte, hat der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) bei einer Podiumsdiskussion in der Aula der Uni Mannheim ausgeführt. Wer die Relevanz der EU bei der Bewältigung aktueller politischer Fragen leugne, „der hat offensichtlich die Aufgabenverschiebung in den letzten Jahren nicht mitbekommen“, betont Lammert.
Aufruf zur Wahlbeteiligung
Nahezu voll besetzt ist der Saal im Ostflügel des Schlosses, als darin am Freitag auch Katarina Barley (SPD), Vize-Präsidentin des Europäischen Parlaments, zu Gast ist. Eingeladen zur Veranstaltungsreihe „Mannheimer Europagespräche“, zu der die Diskussion den Auftakt bildete, hat der Arbeitskreis Europäische Integration gemeinsam mit der Universität.
„Es liegt in unserem Interesse, unseren Einfluss zu bündeln“, wirbt Lammert für eine Beteiligung an der Europawahl am diesjährigen 9. Juni, deren Wahlbeteiligung mit 42,6 Prozent im Jahr 2014 und 50,6 Prozent 2019 durchgängig niedriger ausfällt als die Beteiligung an Bundestagswahlen.
Europa nehme weltweit statistisch gesehen eine immer „bescheidenere“ Rolle ein. Selbst der größte Nationalstaat darin – Deutschland – stelle nur ein Prozent der Bevölkerung. Der rein nationalstaatliche Einfluss eines einzelnen europäischen Landes auf die „globalen Geschäftsbedingungen“ sei schwindend gering, mahnt Lammert.
Ist die EU eine Technokratie?
Friedemann Kainer, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität moderiert die Veranstaltung und konfrontiert die beiden Podiumsteilnehmer mit dem Vorwurf, die EU sei ein Hort der Technokratie, das Parlament fälle Entscheidung oft hinter geschlossenen Türen. Lammert äußerte, es gebe neben der EU keine andere internationale Organisation mit vergleichbarem Demokratielegitimations-Niveau.
Verwundert stellt Katarina Barley, die mit dem Zug aus Brüssel nach Mannheim reiste, fest: „Den Vorwurf bürgerfern höre ich manchmal, aber technokratisch habe ich noch nie gehört.“ Dass etwa Kontakt zu den Bürgern im eigenen Wahlkreis Mitgliedern des EU-Parlaments häufig fehlt, weiß Barley. 96 Abgeordnete repräsentieren Deutschland darin, der Bundestag zählt derzeit 736 Mitglieder.
Auf einen Europaabgeordneten, rechnet Barley vor, entfiele der Aufgabenbereich von acht Bundestagsabgeordneten – und dies „in der Hälfte der Zeit“. Als Barley früher ehrenamtlich politisch tätig war, hatte sie festgestellt: „Europaabgeordnete kriegt man ja überhaupt nicht zu sehen.“ Heute wisse sie, warum – auch wenn ihr mehr Bürgernähe durchaus am Herzen läge. „Aber ich glaube, das ist nicht machbar.“
Den Vorwurf seitens Kainer, die mediale Berichterstattung drehe sich – im Gegensatz zum Bundestag – in Sachen EU-Parlament hauptsächlich um Entscheidungen, weniger um Beratungen und Prozesse, lässt Barley nicht gelten. „Ja, aber ist das unser Problem?“, stellt sie an den Anfang ihrer Ausführungen, in denen sie auf die große Kommunikationsabteilung des Europäischen Parlaments und die Reichweite seiner Social-Media-Kanäle verweist. „Das Angebot ist da“, hält sie fest und spicht von einer Herausforderung, „an Menschen Informationen zu vermitteln, die sie nicht haben wollen“.
"Kernparadoxie des europäischen Integrationsprozesses“
In ihrer Form wurde die EU im Jahr 1993 gegründet. 1952 traten die Staaten Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande erstmals zur damaligen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zusammen. Im Zuge des fortgeschrittenen Bedeutungsgewinns der EU – die kein Staat, sondern eine Staatengemeinschaft ist, wie Norbert Lammert klarstellt – hätten Mitgliedsstaaten der EU immer mehr nationalstaatliche Aufgaben übertragen. Dass genau diese Staaten heutzutage einen Kompetenzverlust beklagen, nennt der frühere Bundestagspräsident „die Kernparadoxie des europäischen Integrationsprozesses“.
Bei der Veranstaltung bietet Vize-Präsidentin Katarina Barley den Anwesenden auch einen umfassenden Einblick in die Maschinerie und Arbeitsweise des europäischen Parlaments. Nicht zuletzt aufgrund der diffusen Wahrnehmung von Parteizugehörigkeiten bei über 200 vertretenen Nationalparteien käme einem Abgeordneten dort mehr Spielraum in der individuellen Urteilsfindung zu als im Bundestag. Dies bedeute aber auch, dass sich „auf den letzten Metern“ eines Entscheidungsprozesses noch vieles verändern könne.
Die Podiumsteilnehmer diskutierten auch Reformvorschläge des EU-Parlaments. Norbert Lammert brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, „dass man das Mitwirkungsrecht der nationalen Parlamente eher rückbauen muss“, weil das nationale Recht zur Ratifizierung von Handelsverträgen schon viele Vorhaben gebremst hätte.
„Was ist denn das für ein Demokratieverständnis“, reagierte Barley auf einen Vorwurf von Friedemann Kainer, der nachhakte, warum die europäischen Sozialdemokraten den unbekannten Luxemburger Nicolas Schmit jüngst zum Spitzenkandidaten ernannten. „Wollen Sie den bekanntesten Kandidaten oder den besten?“, brachte Barley die Krux zum Ausdruck – und ging auch auf ein politisches „Transparenz-Dilemma“, wie sie es nannte, ein: „Ein Teil der Politik findet immer hinter geschlossenen Türen statt und muss es auch.“ Damit man Tacheles reden könne, sich anschreien, und Nägel mit Köpfen machen.
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