Mannheim. Substanzabhängig. Und noch dazu von häuslicher Gewalt betroffen. Frauen mit diesem Hintergrund haben es in unserer Gesellschaft schwer. Mitmenschen haben Vorbehalte, suchen erstens bei gewalttätigen Übergriffen oft Schuld beim Opfer. Und sehen zweitens die Erkrankung Sucht als Charakterschwäche an. In Mannheim startet jetzt ein von Drogenverein und Mannheimer Frauenhaus neu initiiertes Schutzprojekt für genau diese Frauen. Es ist nach Angaben der beiden Vereine bundesweit einzigartig.
Fakt ist: Wer abhängig ist, hat keinen Zugang zu einem gewöhnlichen Frauenhaus. Somit klafft eine Versorgungslücke auch mitten in Mannheim. Das eingangs genannte Stigma der Sucht bekamen Philip Gerber, Geschäftsführer Inhalte und Innovation beim Drogenverein, und Nazan Kapan, Geschäftsführerin des Mannheimer Frauenhaus, selbst indirekt zu spüren. Bei der Suche nach einer geeigneten Immobilie für ihr Projekt. „Die Suche war nicht einfach“, erzählt Gerber. Das Stigma zeigte sich auch bei Maklern und auch bei privaten Vermietern: „,Ja, das ist ja ein tolles Projekt, was Sie da machen’, hieß es erst“, so Gerber. „Dann aber am Ende kam es zu Druckserei, wie: ,Ja, aber vielleicht ist das doch etwas zu speziell’ – und dann wurden wir abgelehnt“, sagt Gerber.
Über einen privaten Kontakt hat es jetzt aber doch geklappt. Drei nahe zusammenliegende Wohnungen in einem Haus in Mannheim konnten angemietet werden. Die Schutzräume befinden sich aus Sicherheitsgründen an einem geheimen Ort. Sozialarbeiterinnen werden da sein, allerdings ist es keine 24-Stunden-Betreuung, berichtet Kapan. Das Pilotprojekt wird zum größten Teil vom Sozialministerium Baden-Württemberg finanziert. „Das Ministerium hatte sofort offene Ohren, als wir unsere Ideen vorgelegt haben“, sagt Kapan.
Schutz trotz doppeltem Stigma
Dass das so ist, liegt auch daran, dass die in Deutschland immer wieder als „mangelhaft umgesetzt“ geltende Istanbul-Konvention vorsieht, psychisch erkrankten, behinderten oder süchtigen gewaltbetroffenen Frauen besonderen Schutz zu bieten. So hatte zuletzt das Institut für angewandte Sozialwissenschaft auf große Zugangsbarrieren zu Frauenhäusern für diese Gruppen hingewiesen.
Ein großes Augenmerk beim Mannheimer Projekt, das SEGEL heißt, liegt zudem auf den Kindern der Frauen. Betreuung und Kindswohl stehen im Fokus: „Denn die Kinder werden oft vergessen“, sagt Gerber. Sie seien aber als Kinder Suchterkrankter zu einem Drittel später selbst suchtgefährdet. „Es ist also auch eine soziale Investition, die sich über Jahrzehnte lohnt, auch für die Kommunen“, betont er.
Bei der Aufnahme in die Schutzwohnung wird durch Fachpersonal der Konsum und die sogenannte Konsumbiografie erfasst, Gefährdungen werden analysiert. Bis hin zum Notfallschutz bei Überdosis ist alles geregelt, so Gerber. „Wir nehmen niemanden um 24 Uhr mitten in der Nacht auf, wie sonst in Frauenhäusern“, sagt er. Es werde alles sorgfältig analysiert, das Vorgehen mit dem Fachpersonal besprochen. Das sei sehr wichtig. „Ist psychiatrische Suchthilfe nötig, ist diese schnell da“, sagt Gerber. „Normal wartet man auf einen Therapieplatz locker zwei Monate.
Infos und Spenden
Das Angebot soll Mitte Mai starten. Unterstützt wird es vom Sozialministerium Baden-Württemberg und von zahlreichen privaten Spendern.
„In der Lebensgeschichte vieler drogenabhängiger Frauen häufen sich Gewalterfahrungen. Es sind besonders sexuelle Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe, denen die Frauen über viele Jahre ausgesetzt sind“, so Nazan Kapan, Geschäftsführerin des Frauenhauses. Laut amerikanischen Untersuchungen, die sich mit Erhebungen in deutschen Einrichtungen decken, sind bis zu 80 Prozent aller drogenabhängigen Frauen in ihrer Kindheit sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen, betont Kapan.
Im Vergleich zu den Ergebnissen der Repräsentativerhebungen seien also süchtige Frauen von körperlicher und sexueller Gewalt „sehr viel stärker betroffen als Frauen, die dieses zusätzliche Problem nicht haben“.
Spenden: Mannheimer Frauenhaus e. V., Zweck: „Projekt SEGEL“
Sparkasse Rhein Neckar Nord, IBAN: DE04 6705 0505 0030 1119 31
„Wir können nicht alle Fälle aufnehmen“, sagt Gerber aber auch. Sogenannte hochbelastete Fälle müssten temporär stationär in geschlossenen psychiatrischen Einrichtungen betreut werden. Hochbelastet bedeutet etwa, wenn eine Frau Alkohol, Schlafmittel, Kokain und Heroin gleichzeitig konsumiert und obdachlos ist.
„Sucht ist oft von Ambivalenz geprägt“, sagt Gerber. „Das kennt man oft schon vom eigenen Umgang mit Zigaretten, etwa wenn jemand aufhören will. Hinwenden zur Droge, wieder wegwenden davon, es ist auch das, was die Leute verstört.“ Zu den Stigmata gegen süchtige Gewaltbetroffene sagt er: „Die Menschen denken, sie haben dann Sodom und Gomorra im Haus.“ Aber dem sei nicht so: „Deshalb sind wir ja da und schauen nach den Frauen – dass sie nicht weiter Drogen nehmen, wir haben ein Auge auf sie. Auch auf ihre Substitution (Anm. d. Red.: medikamentöse legale Ersatzdrogen während eines Entzugs).“
Die Räume seien „Konsum-intolerant, auch weil Kinder dabei sind“, erklärt Gerber. „Die Frauen wollen ja weg, in ein normales Umfeld, haben also eine positive Motivation“, sagt er. „Wir werden das Projekt wissenschaftlich begleiten lassen. Wir hoffen, dass wir Vorbild für andere Kommunen sein können, am Ende eine Empfehlung für sie abgeben können“, so Kapan. Vier Plätze gibt es – und die werden schnell weg sein, sind sie und Gerber sich sicher. Denn das Frauenhaus ist offen für alle baden-württembergischen suchtkranken gewaltbetroffenen Frauen. Und schon allgemein gibt es eine hohe Nachfrage im Gewaltschutzraum-Bereich, wie Kapan betont.
Und sind in der Pandemie Zahlen von Frauen mit Sucht- und Gewalthintergrund ebenso angestiegen wie je bei den einzelnen Problematiken? „Das kann man jetzt noch nicht sagen“, erklärt Gerber. Wir gehen von drei bis sieben Jahren nach Beginn einer Suchtentwicklung aus, bis Menschen erstmalig das Hilfesystem aufsuchen.“ Jetzt merke man noch nichts, es könne aber die Ruhe vor dem Sturm sein. Kapan sagt indes: Die Frauenhäuser spüren die Nachfrage stärker denn je und appelliert im Gespräch dazu, dass die süchtigen Frauen ganz besonders gefährdet sind. Sie verweist darauf, dass sich laut Studien Gewalt und Sucht gegenseitig bedingen. Ein Teufelskreis.
Kapan betont eindringlich: „Und es ist beim Thema Gewalt ganz wichtig zu betonen: Von Gewalt betroffene Frauen sind keine Täterinnen!“ Sie sagt: „Unser Projekt soll Schule machen – landes- und bundesweit“. Und es soll Synergien wecken, so wie zwischen den beiden Mannheimer Vereinen. Denn die hatten bisher wenig Schnittpunkte. Ihre Kooperation kam über ihre Mitgliedschaft im Paritätischen Wohlfahrtsverband zustande. Und nun sind sie voller Tatendrang bei ihrem Pilotprojekt, mit dem sie für eine bessere Gesellschaft kämpfen.
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