Debatte zum Thema "Gewalt geht uns alle an"

Diskussion über Gewalt in Mannheim: "Dass wir keine Täterhäuser haben, sagt alles"

Von 
Lea Seethaler
Lesedauer: 
Nazan Kapan (v.l.), Tanja Kramper, Ilka Sobottke und „MM“-Lokalreporterin Lisa Wazulin in der Abendakademie. Kathrin Yen war digital zugeschaltet. © Mathias Ludwig

Mannheim. Gewalt ist nicht immer nur „draufhauen“. Das musste auch Pfarrerin Ilka Sobottke erleben, als sie im Wort zum Sonntag in der ARD sagte: „Impfen ist Nächstenliebe.“ Daraufhin brach ein Shitstorm über sie herein. Voller Wortgewalt. Zunächst in den Sozialen Medien. Sie wurde „in alle Verwandtschaftsverhältnisse mit dem Teufel“ gestellt, beschimpft, bedroht.

„Ich hab’ dann irgendwann gar nicht mehr in meine Accounts geguckt“, berichtet sie. Es seien ihre Freunde gewesen, die sie aus der Schockstarre wachrüttelten: „Du kannst doch nicht solchen Leuten ein Forum geben, du musst etwas tun“, sagten die. Sobottke war weiter entsetzt, fassungslos - ja paralysiert. Mehrere hunderte Hasskommentare waren es unter ihrem Account. Und nachdem ihr persönliches Mailpostfach auch noch übergelaufen war, teils mit organisierter verbaler Gewalt von sogenannten Internet-Trollen, begriff sie, was geschah. Doch genau das Begreifen, „dass das Gewalt ist, dass ich Ziel einer gewalttätigen Kampagne bin“, das habe gebraucht, beschreibt die Pfarrerin.

Doch nach Worten im Netz geht es weiter. Direkte Anrufe und Briefe, sogar Pakete - nach Hause. „Da ist mir die Kehle zugegangen“, sagt Sobottke. Ihr ist klar, dass in Paketen „Dinge sein können, die gefährlich sind.“ Es sei wichtig gewesen, dass die Kirchenleitung sich formiert habe. Dass diese sich deutlich mit Rechtsberatung eingeschaltet habe. „Wir waren auf sowas überhaupt nicht vorbereitet. Heute gibt es bei der EKD eine Notrufnummer für genau solche Fälle“, berichtet sie. Durch die Kirchenleitung wurden viele Dinge, auch aus dem Netz, zur Anzeige gebracht, Rückendeckung aufgebaut und Sobottke, hat sich - auch dank Umfeld - gewehrt.

Viele Facetten der Gewalt und Tipps für Betroffene

  • Unter Moderation von „MM“-Redakteurin Lisa Wazulin und nach Grußwort von Claus Preißler, Integrationsbeauftragter der Stadt, diskutierten Expertinnen im Rahmen der „einander.Themeninseln des Mannheimer Bündnisses für ein Zusammenleben in Vielfalt. Eine Broschüre mit Anlaufstellen gibt es unter bit.ly/3lEjwD5.
  • Mit jemandem reden, Kontakt suchen, den Übergriff nicht für sich behalten sei eine gute Strategie direkt nach einem Übergriff. „Und wenn einer nicht hören will, es dem oder der nächsten anvertrauen, Hilfe holen“, so der Rat.
  • Wichtig: Spuren sichern. Auch wenn es schwerfällt: Nach der Tat sollte man nicht duschen, nichts waschen. „Ich rate allen, möglichst früh zu uns zu kommen“, so der Expertenrat. In jeder Stunde gehen Spuren verloren. „Bei Vergewaltigungen gibt es oft keine Verurteilung vor Gericht. Hauptgrund ist der Mangel von Beweisen“, so Kathrin Yen. see

Drohungen und Verleumdungen durch Screenshots dokumentieren

„Das Netz ist kein rechtsfreier Raum“, betont Tanja Kramper, Opferschutzkoordinatorin vom Polizeipräsidium Mannheim. „Wir tolerieren keine Gewalt. Sei es im öffentlichen Raum, im häuslichen Kontext oder im Digitalen.“ Sie empfiehlt, wenn Diffamierung, ein Shitstorm oder auch Verleumdungen oder Drohungen im Netz stattfinden, dagegenzuhalten. Auch als einzelner Internetuser. „Einfach mal nachfragen ,Woher kommt deine Information?’“ Sehr wichtig sei zudem, zu dokumentieren. Durch Screenshots etwa. Das sei sehr wichtig, wenn man danach zur Polizei gehe und es melde. Auch wichtig: Zu schauen, was im Netz über einen selbst bekannt und öffentlich einsehbar ist. Als Prävention. „Googeln Sie sich mal“, sagt Kramper.

Wie wichtig die Dokumentation von einer ganz anderen Form der Gewalt ist, weiß Rechtsmedizinerin Kathrin Yen. Die sexuelle und körperliche Gewalt. Yen leitet die Gewaltambulanz in Heidelberg. „Bei uns kann man sich untersuchen lassen, ohne bei der Polizei gewesen zu sein“, betont Yen. Warum ist das so wichtig? „Niemand wird gern Opfer. Man schämt sich. Doch jeder kann es werden.“ Gewalt sei „derart vielfältig“ vorhanden. „Wer gegen den Willen geküsst oder gewürgt wurde - dabei werden Spuren übertragen. Die finden wir und sichern sie.“ Das niederschwellige Angebot gebe es, „weil wir sonst ganz große Bereiche der Gewalt nicht erreichen würden“, so Yen. Weil Frauen den Mann nicht gleich anzeigten, „weil wir gerade beim Thema Kindesmissbrauch immer von der Aufmerksamkeit der Umwelt abhängig sind.“ Auch das Thema Gewalt gegen Männer durch Täterinnen etwa sei mit noch mehr Tabus und Scham belastet als das Umgekehrte. Aber auch alte und betagte Menschen untersuche man. „Man kann sich selbst melden. Oder auch Angehörige. Zum Beispiel, wenn jemand bei einem Kind denkt: ,Da könnte was passiert sein.’“

Die kostenlose Gewaltambulanz hilft der Prävention, ist auch mobil. „Es gibt ein paar, bei denen wir wissen, dass die Person nicht überleben wird, und ein paar Tage später führen wir die Obduktion durch“, so Yen. Die Ambulanz diene auch der Prävention, da sie das „Dunkelfeld“ Gewalt erhelle. Es gibt neuerdings ein Projekt „GUIDE4YOU“ bei ihr. „Die häuslichen Gewaltopfer kommen teilweise mit schweren Verletzungen, dann gehen sie wieder, man versucht zu beraten und Kontakte mit zu geben.“ Doch im städtischen Hilfesystem erschienen viele nie. Diese Betreuungslücke am Anfang schließe nun das Projekt, eine Lotsin, eine Psychologin, nimmt sie an die Hand und führt sie ins Hilfesystem. „Das ist sehr erfolgreich“, so Yen. Denn oft sind Kinder im Spiel, finanzielle Abhängigkeiten - „und eine Frau kann nicht einfach von zuhause weg und sagen ,Jetzt fang ich ein neues Leben an’“.

Strukturen für Täterberatungsstellen notwendig

Nazan Kapan, Geschäftsführerin des Frauenhauses, zu dem auch das Fraueninformationszentrum gehört, sagt, Gewalt findet im unterschiedlichsten sozialen Umfeld statt. „Es gibt bei uns Fälle, bei denen wir wissen: Der Mann ist in dieser Gesellschaft hoch angesehen, die Frau sagt: ,Ich kann meinen Mann nicht bloßstellen.’“ Sie verzeichne weiter steigenden Bedarf in den Beratungsstellen. Sei es bei Problemen mit dem Partner oder schwierigen Trennungssituationen.

„Die Frage ist auch: Sprech’ ich deutsch, habe ich einen guten Job, eine Ausbildung, habe ich zwei, drei, vier Kinder“, sagt Kapan. Es gebe kulturelle Hürden, finanzielle Abhängigkeiten. Ungleichbehandlung der Frau, privat oder im Job, die in der Gesellschaft zu Abhängigkeiten führe, müsse man angehen. „Dass wir keine Täterhäuser haben, sagt alles über unsere Gesellschaft“, so Kapan. „Der Täter bleibt am Ort und die Frau geht ins Frauenhaus.“ Am Ende waren sich alle Diskutantinnen einig: Auch Strukturen für Täterberatungsstellen müssen ausgebaut werden.

Prävention fange zudem im Kleinen an, so Kathrin Yen: „Wir sind heute eine Frauenrunde.“ Aber auch Männer müssten etwas tun. „Werden blöde Witze über Frauen gemacht, müssen wir das gesellschaftlich ächten.“

Redaktion Redakteurin und Online-Koordinatorin der Mannheimer Lokalredaktion

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen