Mannheim/Bonn. Er warnt gleich mal. „Es wird anstrengend“, sagt Ernst Porschen. Der pensionierte Oberst i. G. im Bundesverteidigungsministerium läuft schnell, und er hat viel zu sagen. Er nimmt die „Mannheimer Morgen“-Leserinnen und Leser mit auf den „Weg der Demokratie“ durch Bonn, dorthin, wo die Wurzeln des heutigen Deutschlands sind – in das frühere Regierungsviertel.
75 Jahre Grundgesetz – dieses Jubiläum ist Anlass für diese Reise, speziell für „MM“-Leserinnen und Leser zusammengestellt. Für Hannelore Seidel ist die Tour „besonders emotional“, wie sie gleich bei der Abreise sagt: „Ich bin in Bonn aufgewachsen“, sagt sie, „und mein Vater hat im Verteidigungsministerium für den Regierungsbunker gearbeitet, durfte aber nicht darüber sprechen“.
Dreitägige Lesereise des "Mannheimer Morgen" mit Humor und Charme begleitet
Drei Tage sind die „MM“-Leserinnen und Leser im Rheinland unterwegs, auf einer „Bildungs- und Informationsreise“, wie es Reiseleiter Dieter Dietrich formuliert, der die Gruppe, stets mit einem humorvollen Spruch auf den Lippen, durch das Programm führt. Es umfasst viele politisch-historische und auch ein paar touristische Aspekte. Der wichtigste Teil ist jener, der zu den Orten führt, wo die Bundesrepublik vor 75 Jahren entstanden ist.
Dass Porschen, der heute als Gästeführer arbeitet, zunächst ein Naturkundemuseum ansteuert, erstaunt daher. Der erste Blick fällt auf ausgestopfte Tiere, zwei Giraffen, ein Nashorn, Zebras. Und doch ist dieser Ort „von elementarer Bedeutung für die Entstehung der Bundesrepublik“, wie der frühere Offizier betont. Hier, im Lichthof des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig, haben sich am 1. September 1948 die Mitglieder des Parlamentarischen Rates zur festlichen Eröffnung ihrer Arbeit getroffen. „Die Tiere waren aber zugehängt“, stellt Porschen klar.
Als nächste „ganz historische Stelle“ stellt er das frühere Bundeshaus vor, einst Aula der Pädagogischen Akademie Bonn und über Jahrzehnte im Fernsehen zu sehen. Die „MM“-Leserinnen und LEser erinnern sich sofort an das weiße Gebäude im Bauhaus-Stil. „Wiege unserer Verfassung“ nennt es Porschen, weil hier in der Aula der Parlamentarische Rat dann getagt und das Grundgesetz formuliert hat. Später dient der Gebäudekomplex dem Bundesrat, gleich daneben tagt der Bundestag.
Leserreise dem "MM": Den "Weg der Demokratie" ablaufen
Die Gruppe läuft vorbei an jenen Gitterzaun, an dem Gerhard Schröder als Juso nach einer Kneipentour gerüttelt haben soll. Das Kanzleramt von 1976 (heute Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), Palais Schaumburg, Villa Hammerschmidt – alle markanten Gebäude der „Bonner Republik“ erläutert Porschen. Während das Kanzleramt sich ganz aus Bonn zurückgezogen hat, ist die Villa Hammerschmidt weiter offiziell zweiter Dienstsitz des Bundespräsidenten, und der sei „regelmäßig unregelmäßig“ auch da, wie er sagt.
Als das „für die jüngste Geschichte wichtigste Gebäude“ bezeichnet Porschen das umgebaute Wasserwerk, während des Baus eines neuen Plenarsaals 1986 bis 1992 Tagungsort des Bundestages. Hier haben die Abgeordneten 1989 vom Fall der Mauer erfahren und spontan das Deutschlandlied angestimmt, hier haben sie 1991 ihren Umzug nach Berlin beschlossen. Bonn wird zur „Bundesstadt“ erklärt. Wer mit Ernst Porschen den „Weg der Demokratie“ entlang läuft, der sieht, was das in der Praxis bedeutet.
Natürlich ist der Weg lang. „Demokratie ist anstrengend“, scherzt Porschen doppeldeutig, „aber wichtig“, ergänzt „MM“-Leserin Ursula Blank am Fuß vom „Langen Eugen“, dem einstigen Abgeordnetenhochhaus. Nun prangt das Logo der Vereinten Nationen am Dach. Bonn darf sich „deutsche UNO-Stadt“ nennen, wie Porschen als „Alleinstellungsmerkmal“ hervorhebt. 20 Unterorganisationen der Vereinen Nationen haben in Bonn ihren Sitz, zudem etwa 200 Lobbyverbände und internationale Nichtregierungsorganisationen.
Dazu belegen Bundeskartellamt, Bundesnetzagentur, Telekom und Bundesrechnungshof ehemalige Regierungs- und Parlamentsgebäude. Aus dem früheren, bis 1999 vom Bundestag genutzten Plenarsaal ist, mit einem sehr modernen Anbau, das „World Conference Center Bonn“ geworden. „Es steht also nichts leer, im Gegenteil, es ist neu gebaut worden“, betont er. Aber er räumt ein: „Wäre die Wiedervereinigung fünf Jahre früher gekommen, sähe Bonn anders aus.“ Lange, sehr lange wollte man am Rhein nur provisorische Hauptstadt sein und habe auf die Deutsche Einheit gehofft. Erst in den 1980er Jahren fing man an, repräsentativere Gebäude neu errichten. Und prompt kam die Einheit.
"MM"-Leserinnen und Leser vorerst einige der letzten Besucher der Ausstellung im Haus der Geschichte
Eines dieser repräsentativen Gebäude stellt das Haus der Geschichte dar, 1982 eine Idee von Helmut Kohl und 1994 von ihm eröffnet. Jetzt sind die „MM“-Leser einige der allerletzten Besucher der Dauerausstellung, denn sie wird nun geschlossen, aktualisiert und erst 2025 wieder zugänglich sein. 7000 Objekte umfasst die Ausstellung derzeit. Ihr Ziel sei, die deutsche Geschichte seit 1945 „durch Alltagsleben und Objekte erfahrbar zu machen“, wie Museumsführerin Almuth Bartels sagt. „Und sie haben ja viel davon selbst erlebt“, wendet sie sich an die „MM“-Leser.
Und tatsächlich, sofort wird spürbar, wie viele der Reiseteilnehmer „Aha-Erlebnisse“ haben. Das beginnt beim US-Jeep, der für das Kriegsende steht, bis zu Care-Paketen oder aus Stahlhelmen gefertigten Sieben. „So eins hatten wir auch“, ist da mehrfach zu hören, weil viele die karge Nachkriegszeit miterlebt haben. „Ins Kino durfte man nur, wenn man Briketts mitgebracht hat“, meldet sich Claudia Kuhne (83) zu Wort, und an der Wand mit Filmplakaten aus den 1950er Jahren entwickeln sich sofort rege Gespräche, wer welchen Streifen damals gesehen hat.
Noch schöner sind die Erinnerungen, als ein VW Käfer mit Brezelfenster zu sehen ist oder ein Messerschmitt Kabinenroller, Petticoats, Nierentische, Musikautomaten und Hausgeräte. Jeder denkt jetzt plötzlich daran zurück, was damals zuhause stand. „Man sieht hier so viele Dinge und denkt: Ach ja, genau so war es!“, sagt Ilse Braun.
Aber es gibt nicht nur Amüsantes im Haus der Geschichte: „Ich war damals bei Demos dabei, als die Preise im Nahverkehr erhöht wurden“, erwähnt Werner Peuker, als ein Wasserwerfer und Polizistenhelme die 1968er Jahre illustrieren. Mauerbau und Fall der Mauer – alle wichtigen Kapitel der deutschen Geschichte kommen vor. Zwischendurch dürfen die „MM“-Leser in Originalstühlen des alten, bis 1986 genutzten Plenarsaals des Bundestags Platz nehmen und jene Fahne sehen, die am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag aufgezogen wurde – zusammengefaltet, denn sie ist 60 Quadratmeter groß.
Éin Brief von Adenauer an den Schüler Christoph
Dass Bonn mehr als Politik und Geschichte bietet, zeigt Claudia Kornagel auf informative wie amüsante Weise. Sie führt durch die Stadt, die einst Sitz der Erzbischöfe von Köln war, zeigt deren Lustschloss in Poppelsdorf und was aus dem einstigen Schlossgarten geworden ist. Die Universität betreibt ihn als Botanischen Garten mit 10 000 Pflanzen aus allen Weltregionen. Dann natürlich das Beethovenhaus. Jenseits aller politischen Bedeutung rühmt sich Bonn auch, Geburtsort des Komponisten zu sein – obgleich er mit 21 Jahren nach Wien gereist „und nie zurückgekommen“ ist, wie Claudia Kornagel bedauert.
Nie in Bonn gewohnt, sondern in seinem Häuschen im nahen Röhndorf hat Konrad Adenauer, Inbegriff der „Bonner Republik“. Die Führung durch dieses Haus, wo alles im Original erhalten ist, bedeutet Christoph Schindler besonders viel. 1963, er war etwa zwölf Jahre alt, hat er im Fernsehen mitbekommen, dass Adenauer Geburtstag hat, und ihm per Schreiben gratuliert.
Das Dankes-Kärtchen aus dem Kanzleramt mit der Unterschrift von Adenauer hat Schindler bis heute aufbewahrt und zeigt es nun stolz genau dort, wo Adenauer gelebt hat. „So habe ich mir das gar nicht vorgestellt“, kommentiert Ingrid Lampe danach den Besuch in dem Haus mit den vielen originalen Einrichtungsgegenständen. „Wirklich sehr interessant, ich habe viel nicht gekannt“, sagt sie. Bianca Beyer bekräftigt das: „Ich habe viel über Adenauer erfahren, was ich nicht gewusst habe, denn unser Geschichtsunterricht hat 1933 aufgehört“.
Im Wortsinne tief hinein in die jüngste Geschichte geht es dann im Ahrtal. „Beklemmend“ – das Wort fällt hier öfter, an zwei Stellen. Zunächst dürfen die „MM“-Leser den lange ganz geheimen „Ausweichsitz der Bundesregierung“, sprich den Regierungsbunker, in alten Bahnstollen in Ahrweiler kennenlernen, dann sehen sie die noch immer sehr drastischen Schäden des Hochwassers vor drei Jahren im Ahrtal.
Am Ende sind die Teilnehmer hoch zufrieden. „Es war super, ein volles Programm“, so Gabriele Neff. „Mit einiger geistiger Anregung“, wie Gabriele Manjura ergänzt. „Eine anstrengende, aber tolle Erfahrung“, bilanziert Paul Braun die Reise. „Vieles sollte die Jugend besichtigen und ihr viel mehr vermittelt werden“, findet Christoph Schindler. Bianca Beyer lobt die Reise als „sehr informativ und abwechslungsreich, sie hat mir auf manche Dinge eine neue Perspektive eröffnet“.
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