Mannheim. Rappelvoll ist es am Dienstagabend im Bürgerhaus Neckarstadt-West. Das überrascht auch Gastgeber Jochen Schneider, denn das Vortragsthema „Ukraine im zweiten Kriegsjahr – Wie geht es weiter?“ beherrscht nicht mehr die Schlagzeilen wie jetzt der Nahost-Krieg.
Putin-Versteher unter sich?
Schneider ist in Mannheim zumindest unter den älteren Semestern kein Unbekannter. Er war früher SPD-Geschäftsführer in Mannheim, Heidelberg und Rhein-Neckar. Gegenwärtig koordiniert Schneider in der Quadratestadt einen lockeren Gesprächskreis, der alle ansprechen soll, „die sich noch eigene Gedanken machen“. So lautet das Motto der Nachdenkseiten. Die Website gehört zu den meistgelesenen politischen Blogs in Deutschland und wurde vom früheren SPD-Politiker Albrecht Müller gegründet, der wie Schneider aber schon lange aus der Partei ausgetreten ist. Kritiker werfen den Autoren des Blogs eine Schwäche für Verschwörungsmythen vor.
Stargast Peter Brandt, Historiker und ältester Sohn des legendären SPD-Altkanzlers, hat dennoch „keine besonderen Berührungsängste“, wie er im Gespräch vor der Veranstaltung ausführt. Schon in früheren Zeiten hätten ältere Herrschaften kritische Geister unter Kommunismus-Verdacht gestellt, um sie in Verruf zu bringen. Er selbst unterscheidet sich von den Herren Schneider und Müller allerdings dadurch, dass er das rote Parteibuch noch besitzt. Deshalb verneint er später auch die Frage aus dem Publikum, ob er bei der nächsten Bundestagswahl Sahra Wagenknecht seine Stimme geben würde. Brandt ist also offensichtlich kein Wechselwähler.
Wagenknecht steht wie der andere SPD-Altkanzler – nämlich Gerhard Schröder – im Lager der Putin-Versteher, wie auch viele Politiker und Wähler der AfD-Wähler. Damit heben sie sich von der breiten Mehrheit in der Bevölkerung ab, die sich seit Russlands Überfall für die militärische Unterstützung der Ukraine ausspricht, wie das Politbarometer der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen belegt.
In der Fragrunde fallen Bemerkungen, die Ukraine diskreditieren
Das Publikum ist natürlich gespannt, wo sich Peter Brandt einordnet. Unterzeichnet hat er den SPD-internen Aufruf „Mehr Diplomatie wagen“ – in Abwandlung des legendären Spruchs seines Vaters („Mehr Demokratie wagen). Und er ist Initiator des Appells „Frieden schaffen!“ Das Problem bei diesen Appellen: Sie äußern unterschwellig den Vorwurf, dass die Verbündeten der Ukraine Kriegstreiber seien und immer weiter an der Spirale der Gewalt drehen würden. Ist Putin also nur ein Getriebener, der am liebsten die Tür zum Frieden aufstoßen würde, aber vom Westen daran gehindert wird?
So direkt sagt das natürlich keiner. Gastgeber Schneider erweckt allerdings den Eindruck, als wäre alles im Prinzip einfach: „Reden statt schießen!“ Unerwähnt bleibt, dass Deutschland mit allen Mitteln versucht hat, Putin von seinen Angriffsplänen abzubringen. Eine Woche vor Kriegsbeginn besuchte Kanzler Olaf Scholz (SPD) den Kremlherrscher in Moskau. Und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verteidigte die diplomatischen Bemühungen mit dem Ausspruch „Wer redet, schießt nicht.“
Ist aber doch passiert. Immerhin: Dass Russland die Ukraine angegriffen hat und diese sich selbst verteidigen darf, bestreitet Brandt nicht. Auch bei der Fragerunde rüttelt niemand daran. Aber es fallen immer wieder Bemerkungen, die die Ukraine diskreditieren. Ist sie eine Demokratie? Herrschte dort vor Kriegsausbruch nicht Korruption und Oligarchentum? Erst auf Nachfrage des Reporters räumt Brandt ein, dass Putins Russland ebenfalls keine lupenreine Demokratie ist. Selbst die Tatsache, dass die vormals russische Krim 1954 der Ukraine per Vertrag zugeschlagen wurde, reduziert Brandt auf einen reinen Verwaltungsakt, der damals keine Bedeutung gehabt habe, weil die Krim in der Sowjet-Familie geblieben sei.
Narrativ der verpassten Chance irritiert
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Niemand im Bürgerhaus verlangt von der Ukraine die Kapitulation. Brandt stellt klar, dass ein Waffenstillstand nur dann Sinn macht, wenn es eine Vorverständigung darüber gibt, wie ein Friedensschluss in Umrissen aussehen soll.
Irritierend ist aber sein Narrativ von der großen verpassten Chance. Er bezieht sich auf das Istanbuler Kommuniqué vom März 2022. Da war der Krieg erst knapp fünf Wochen alt. Beide Seiten konnten sich nicht einigen. Brandt erzählt aber eine eigene Geschichte: Die USA und Großbritannien hätten verhindert, dass die Ukraine zustimmt. Das klingt schon verdächtig nach einem Verschwörungsmythos. Und damit stellt sich Brandt selbst ein schlechtes Zeugnis als Historiker aus.
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