Mannheim

Alevitische Gemeinde Mannheim will mehr kulturellen Austausch

Sie besteht seit 30 Jahren und setzt auf Integration und Werte wie Gleichberechtigung und Freiheit: die Alevitische Gemeinde Mannheim. Bisher hat sie viel erreicht - doch wünscht sich ihr Vorsitzender noch mehr Dialoge

Von 
Ilgin Seren Evisen
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1993 von zugezogenen Aleviten gegründet, feiert die Alevitische Gemeinde Mannheim ihr 30-jähriges Bestehen. © Ilgin Seren Evisen

Mannheim. Im Zuge der Einwanderung türkischer sowie kurdischer Gastarbeiter initiierten zugezogene Aleviten 1993 die Alevitische Gemeinde Mannheim. Mit dem Ziel gegründet, das Brauchtum und die überlieferten Riten zu pflegen, besteht der Verein seit 30 Jahren. Inzwischen sind viele Mitglieder erfolgreiche Geschäftsleute, Politiker und Künstler der Region und gelten als Musterbeispiele gelungener Integration.

Hassaktionen und Gewalt in der Türkei vertreiben Aleviten

Der 49-jährige Baris Yilmaz lebt seit 1990 in Ludwigshafen. Yilmaz folgte damals seinem Vater, der bereits 1978 nach Mannheim emigriert war. Ein Zeitraum, den weder Familie Yilmaz noch Millionen anderer Aleviten vergessen werden, ist Dezember 1978. „Morgens frühstückten wir gemeinsam, am Mittag traf man sich in der Stadt oder beim Einkauf und am Abend zündeten sie uns an“, beschreibt Yilmaz noch heute sichtlich erschüttert, wie rechtsextreme Türken im ostanatolischen Maras ihre alevitischen Nachbarn bei lebendigem Leibe verbrannten.

Die Erfahrung, dass aus Nachbarn Mörder werden können, brennt sich tief in das Gedächtnis der Aleviten ein. Dieses Pogrom und andere, die folgen, werden zum Anlass für die Massenauswanderung von Aleviten und führen zur Gründung alevitischer Gemeinden und Vereine in Deutschland und auf der ganzen Welt.

Im Westen in Glaube und Kultur frei

Seit 2013 ist Baris Yilmaz Vorsitzender der Gemeinde, die sich auf Grund ihrer regionalen Reichweite in Alevitische Gemeinde Rhein-Neckar-Kreis e.V. umbenannte. In Deutschland erfahren die Leid und Diskriminierung geplagten Aleviten, dass sie vor dem Gesetz gleich sind, dass ihnen die gleichen Rechte zustehen wie anderen Bürgern. „Wir können hier unseren Glauben und unsere Kultur leben, die Gesetze lassen ein freiheitliches Leben zu“, lobt Yilmaz die Vorzüge westlicher Länder.

Mitglieder wie Yilmaz, der einen eigenen ambulanten Pflegedienst betreibt, bringen sich auch politisch in der Region ein. Der engagierte Politiker ist seit vielen Jahren SPD-Mitglied und Mitglied im Ludwigshafener Stadtrat. Ertan Kurt, gebürtiger Mannheimer und 33 Jahre alt, kennt die Gemeinde seit seiner Kindheit und gestaltet sie als stellvertretender Vorsitzender mit.

Verein leistet vielfältige Gemeinschaftsarbeit

Wie viele Aleviten in der Türkei tatsächlich leben, ist schwer zu sagen, da sie aus Angst vor Diskriminierung ihre religiöse Identität verheimlichen und sie von der türkischen Regierung automatisch dem Islam zugerechnet werden. Die Zahl reicht von zehn bis zwölf Millionen, davon leben inzwischen 700 000 in Deutschland. Über die Entstehung und theologische Zugehörigkeit zum Islam herrschen große Uneinigkeit. Doch in der alevitischen Gemeinde selbst werden derartige Diskussionen nicht geführt.

„Wenn wir zusammenkommen, konzentrieren wir uns auf das, was uns verbindet, und nicht auf das, was uns trennt“, betont Kurt. Der Verein hat mehr als 1200 Mitglieder, die zu einem regen Vereinsleben beitragen. Die Einbindung der Jugend und Frauen ist wie im alevitischen Glauben auch, sehr wichtig, neben kulturellen Veranstaltungen bietet die Alevitische Gemeinde Rhein-Neckar ihren Mitgliedern weitere Dienste an.

„Nicht wenige unserer älteren Mitglieder sind vor der Bürokratie überfordert. Daher helfen wir ihnen bei ihren Behördengängen“, so Yilmaz. Aber auch traditionelle Bestattungen, Nachhilfe- und andere Bildungsprojekte gehören zum Aufgabenspektrum des Vereins.

Aktuell bekommt der Verein die Auswüchse des Brain Drains aus der Türkei zu spüren. „Tausende junge Aleviten möchten das Land verlassen. Die Wirtschaftskrise gepaart mit einem Erstarken der Autokratie lassen sie an einer Zukunft im Land zweifeln“, so Kurt. Auch für diese junge Generation aus der Türkei möchte der Verein ansprechbar sein und sie aktiv bei ihrem Ankommen unterstützen. Nach den Massakern von Maras (1978) und auch Sivas (1993), wo Dutzende alevitische Intellektuelle unter „Allahu Akbar“-Rufen getötet wurden, ist für die Aleviten der Region klar, dass das Fehlen von Organisationen und professionellen Strukturen für sie tödlich enden kann.

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Gemeinsame Werte stärken

Seit Dezember 2020 ist die AABF - Alevitische Gemeinde Deutschland als Körper des öffentlichen Rechts anerkannt und bietet an staatlichen Schulen Religionsunterricht. Ertan Kurt ist Mitglied im Bundesvorstand und berichtet davon, wie erfolgreich das bundesweit erste Projekte zu alevitischem Religionsunterricht an Schulen in Deutschland startete und so für andere Gemeinden Deutschland zum Impulsgeber wurde.

Auch Projekte wie „Colorful ist beautiful“, bei dem Jugendliche der Gemeinde Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Kulturen der Region zu erlebtem Rassismus führten, genießen große Aufmerksamkeit und wurden mit dem MVV Sponsoringfonds ausgezeichnet. „Die Preise und erfolgreichen Projekte bestätigen uns die Richtigkeit unserer Arbeit“, freut sich Kurt, der einen weiteren Schwerpunkt der Gemeindearbeit in den nächsten Jahren auf den Ausbau der Projekte legen wird.

Neben den für die alevitische Gemeinde überlebenswichtigen politischen Werten wie Demokratie, Freiheit sowie Gleichberechtigung, einen die Mitglieder, die oft auch verschiedene ethnische Hintergründe haben, gelebte spirituelle Werte. Alle Lebewesen zu achten, durch Tugendhaftigkeit Erleuchtung zu erlangen und der Glaube an eine Reinkarnation sind tragende Säulen des alevitischen Glaubens. Das Fehlen einer religiösen Hierarchie, die Gleichberechtigung der Geschlechter und der Wunsch nach sozialer Gleichheit aller Menschen sind weitere zentrale Werte.

Nur wenige Glaubensinhalte überliefert

„Wir sehen und verehren Gott in allem. In den Menschen, den Tieren und den Bergen“, erklärt Kurt die Heiligkeit der Natur für Aleviten. Da die Aleviten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Pogromen ausgesetzt waren, sind wenige Glaubensinhalte überliefert. Die Überlieferung zentraler Glaubensinhalte erfolgte in Form von Liedern, die mit dem traditionellen Begleitinstrument türkischer Barden, der Baglama, stattfand. Kurt ist stolz auf die Erfolge seiner Gemeinde, die Preise und die aktive Frauen- und Jugendgruppe.

Für die Zukunft wünscht er sich mehr Dialog-Projekte, denn diese seien der beste Weg, um Ressentiments aus dem Weg zu räumen. „Wir müssen uns alle besser kennenlernen, dann entstehen keine Missverständnisse“, so Kurt. Auch Yilmaz freut sich auf die Zukunft des Vereins und hat einen Appell an die Jugend der Region: „Wer möchte, dass sich die Gesellschaft zum Besseren verändert, soll sich politisch engagieren. Unser politischen System ist der beste Weg dafür.“

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