Mannheim. Herr Reuser, Sie gehen zum Jahresende und damit nach Ihrem regulären Renteneintrittsalter in den Ruhestand. Wieso?
Bodo Reuser: Ich habe zehn Monate länger gearbeitet, weil mir diese Arbeit sehr viel Freude bereitet hat. Andererseits weil in der Evangelischen Kirche notwendige Transformationsprozesse stattfinden, die auch unsere Stelle betreffen. Da wollte ich meine Erfahrungen einbringen.
Als Sie 1992 nach Mannheim kamen, da hatte die Psychologische Beratungsstelle ihr Domizil in C 3, 5, dem damaligen Haus der Diakonie, wo auch die Telefonseelsorge untergebracht war. Damals dürfte die Situation ziemlich beengt gewesen sein.
Reuser: Stimmt. Aber weil dort früher ein Kinderheim untergebracht war, verfügten wir über eine kleine Turnhalle sowie einen ehemaligen Dusch- und Küchenraum, die sich wunderbar für Therapieangebote eigneten. Den gekachelten Raum nutzen wir als Sandspiel- und Matschraum.
Weil beim Matschspiel alle Sinne im Einsatz sind?
Reuser: Auch das. Und weil beim Einsatz von Sand und Matsch innere Konflikte gut herausgelassen und bearbeitet werden können.
Bodo Reuser
- 1986: Abschluss als Diplom-Psychologe. Seit Mitte der 1980er Jahre in der Psychiatrie, seit 1987 in einer Erziehungsberatungsstelle.
- Ab 1992: Leiter und später zusätzlich Geschäftsführer der Psychologischen Beratungsstelle der Evangelischen Kirche in Mannheim.
- Seit 1992: Ausbilder und Lehrsupervisor am Psychodramainstitut Stuttgart, Ausbilder für Psychodramatherapie mit Erwachsenen sowie mit Kindern und Jugendlichen.
- Seit 2003: Vorsitzender der LAG für Erziehungsberatung Baden-Württemberg. wam
Als Sie in den 1980ern Psychologie studierten, hat sich die Sicht auf Kinder allmählich geändert.
Reuser: Die Interessen und Bedürfnisse von Mädchen und Jungen, die für ihre Entwicklung Raum, Aufmerksamkeit und Zuwendung benötigen, sind ernster genommen worden. Heute ist es selbstverständlich, ein Kind als Teil eines komplexen Familiensystems zu sehen. Kinder wollen berücksichtigt, einbezogen, begleitet und unterstützt werden. Sie brauchen Ehrlichkeit, Eindeutigkeit, Entschiedenheit. Wenn das nicht der Fall ist, kommen sie in ihrem Entwicklungsprozess nicht zurecht, entstehen für sie innere Konflikte.
Können Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?
Reuser: Wenn früher Eltern mit Sohn oder Tochter eine Psychologische Beratungsstelle aufsuchten, weil beispielsweise das Kind beim Schlafen ins Bett macht, obwohl es ganz normal die Toilette aufsuchen kann, dann wurde dies als Störung betrachtet und auch nur das Kind behandelt. Inzwischen versuchen wir herauszufinden, was hinter dem Symptom Bettnässen stecken könnte. Ich erinnere mich an einen Jungen, dessen Eltern ihm verheimlichten, dass sie dabei waren, sich zu trennen. Der Sohn spürte die Konflikte der Eltern und hatte auch Ängste, ohne diese einordnen oder darüber sprechen zu können. Diese psychische Last beschäftigte ihn vor allem nachts, was dann zum Einnässen führte.
Stichwort Trennung. Wie häufig spielt diese in der Erziehungsberatungsstelle eine Rolle?
Reuser: Sehr häufig, ungefähr in jedem zweiten Fall handelt es sich darum sowie um Konflikte zwischen den Eltern. Trennung und Scheidung stellen ein belastendes Lebensereignis dar, dessen Bewältigung die ganze Familie herausfordert.
Und was bedeutet das für Kinder?
Reuser: Die Erfahrung zeigt: Kinder wie Jugendliche verkraften das Auseinanderbrechen der Familie einigermaßen, wenn sich die Eltern zwar als Paar trennen, aber als Mutter und Vater erhalten bleiben - ohne sich gegenseitig schlecht zu machen.
Und beim berühmt-berüchtigten Rosenkrieg?
Reuser: Auch wenn die Beziehung der Eltern zerbricht, wollen und brauchen Kinder den Kontakt zu ihren Eltern - zu beiden Elternteilen. Schließlich lassen sich ja nicht die Kinder scheiden. Wenn es jedoch zu dem zitierten Rosenkrieg kommt, bedeutet dies ein emotional stressiger Ausnahmezustand, der auf Dauer das Risiko kindlicher Fehlentwicklungen deutlich ansteigen lässt. Diese Gefahr können wir Ratsuchenden meist klarmachen. Und dann gelingt auch, gemeinsam eine Strategie der Konfliktbewältigung zu erarbeiten, die allen gerecht wird. Es bietet sich beispielsweise Familienmediation an, bei der es stets darum geht, klare Vereinbarungen zu treffen, die im Alltag funktionieren und Eskalation vorbeugen. Und wir bieten diesbezügliche Eltern- und entsprechende Kindergruppen.
Zur Realität gehört, dass oftmals Familiengerichte eingeschaltet werden müssen.
Reuser: Manchmal unterbrechen Familiengerichte ein Verfahren und machen zur Auflage, sich an eine Psychologische Beratungsstelle zu wenden. Bewährt hat sich der Mannheimer Elternkonsens. Und der bedeutet, neue Strategien im Umgang mit dem anderen Elternteil zu erarbeiten und dabei die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen in den Blick zu nehmen.
Geraten im erbitterten Streit um Kinder manchmal auch Profis fachlich an Grenzen?
Reuser: Es gibt Fälle, in denen gegenseitige Verletzungen, auch Hassgefühle derart überborden, dass Väter oder Mütter zu keinerlei Kompromissen bereit sind. Dann hilft auch eine Beratung nicht mehr weiter, dann muss das Gericht entscheiden - ohne Beratungsergebnis.
Hat sich in Ihrem Fach etwas entwickelt, das zu Beginn Ihrer Berufslaufbahn noch kein Thema war?
Reuser: Das ist ganz klar MaiKE, die Mannheimer Initiative für Kinder psychisch erkrankter Eltern. Ihr ging 1999 das von der Diakonie initiierte ‘Kinderprojekt Mannheim‘ voraus. Damit gehören wir deutschlandweit zu den Pionieren. Denn zuvor war kaum ein Thema, ob und wie Kinder und Jugendliche damit zurechtkommen, wenn sich aufgrund einer für sie nicht fassbaren psychischen Erkrankung die Mutter oder der Vater anders verhalten und damit der Alltag anders als bei Gleichaltrigen abläuft. Nur der erkrankte Elternteil und dessen Behandlung standen früher im Mittelpunkt.
Und was hat die Arbeitsgemeinschaft MaiKe, zu der auch der Sozialpsychiatrische Dienst gehört, aufgebaut?
Reuser: Neben Einzelberatung gibt es ein therapeutisches Angebot, das sich an die gesamte Familie richtet. Mädchen und Jungen, die häufig fürsorgende Verantwortung, beispielsweise im Haushalt oder gegenüber kleineren Geschwistern, übernehmen, sollen sich wieder trauen, Kind zu sein, unbeschwert zu spielen. Um das zu erzielen, bieten wir spezielle Gruppen an, durch die Kinder Entlastung erfahren. Und Eltern unterstützen wir, durch gezielte Hilfe für sich besser zu sorgen und den Bedürfnissen der Kinder wieder Raum zu geben.
Es gibt auch das Phänomen, dass sehr fürsorgliche Eltern gleich einem Helikopter über Kindern und Jugendlichen, ja jungen Erwachsenen kreisen.
Reuser: Natürlich möchten die meisten Eltern für ihren Nachwuchs nur das Beste. Aber Kinder brauchen entsprechend ihrer Entwicklung angemessene Freiräume, um zu lernen, selbst Herausforderungen anzugehen und auch mit Enttäuschungen umzugehen, wenn mal etwas nicht klappt. Überbehütende Väter oder Mütter tun sich schwer, loszulassen. Helikoptern, wie es so schön heißt, kann auch dem Bedürfnis entspringen, Kontrolle zu behalten und im Leben des Kindes nur zuzulassen, was den eigenen Vorstellungen entspricht.
Was macht eigentlich gute Eltern aus?
Reuser: Pauschal lässt sich dies nicht beantworten. Aber es gehört auf jeden Fall dazu, sich für Kinder Zeit zu nehmen, präsent zu sein und auch in schwierigen Situationen gelassen, aber gleichwohl zugewandt zu bleiben. Es gehört dazu, Kinder und Jugendliche mit ihren Wünschen und Bedürfnissen zu beteiligen.
Häufig werden Kinder vorgestellt, weil Schulleistungen nachlassen, Noten abrutschen.
Reuser: Natürlich ist Schulbildung gerade heutzutage sehr wichtig. Aber sie ist kein Selbstzweck. Erfahrungen sammeln, Selbstbewusstsein entwickeln, Neugierde spüren, die Welt erkunden - das halte ich für entscheidender. Und manchmal klappt es über Umwege mit der Schule. Zu mir kam eine Familie, deren Sohn auf der Zielgeraden zur Mittleren Reife unbedingt etwas anderes machen wollte. Bei einem handwerklichen Praktikum blühte er richtig auf. Und als der Firmenchef zusagte, dass er ihn nach der Mittleren Reife nehmen würde, kehrte der Junge an die Schule zurück, um den Abschluss hinzukriegen. Das Lernen machte für ihn jetzt Sinn.
Inzwischen nehmen auch Väter Elternzeit, wenngleich deutlich kürzer als berufstätige Mütter. Merken Sie, dass sich Papas mehr einbringen?
Reuser: Also ich sehe in der Beratungsstelle deutlich häufiger Väter als zu Beginn meiner Berufslaufbahn. Und ja, Väter engagieren sich in der Familie deutlich mehr als früher. Aber im Erziehungsalltag ist bei den meisten Männern noch Luft nach oben.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim_artikel,-mannheim-abschied-nach-30-jahren-bodo-heuser-ueber-psychologische-beratung-_arid,2161426.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html