Mannheim. Es herrschten miserable Zustände in Deutschland, das Land lag in Trümmern, doch in der Idylle der Insel Herrenchiemsee kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dreißig Fachleute zusammen, um das Grundgesetz aus der Taufe zu heben. „Sie haben befürchtet, dass die Welt untergeht - und trotzdem das Bäumchen gepflanzt“, erinnert Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung und Gastredner bei der Feier anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes am Montagabend in der Mannheimer Kunsthalle. Nun, 75 Jahre später, sei aus dem Bäumchen ein Obstbaum geworden, der Früchte trage.
Veranstaltung im DTI in Kooperation mit dem Mannheimer Morgen
Wie wertvoll dieser Baum ist und gefährdet dieser Tage, da eine rechtsextreme Bewegung alles daran setzt, den Baum ins Wanken zu bringen, war das beherrschende Thema der Veranstaltung des Deutsch-Türkischen Instituts für Arbeit und Bildung (DTI) in Kooperation mit dem „Mannheimer Morgen“, zu der rund 180 Gäste kamen.
So mahnte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seinem Grußwort, das der geschäftsführende Vorstand des DTI, Franz Egle, verlas, dass überall in der westlichen Welt Rechtspopulisten Ängste schürten, mit Lügen agierten und Menschen gegeneinander aufbrächten. „Die Verbreitung von Hass und Extremismus gefährdet nicht nur unsere demokratischen Prinzipien, sondern auch das friedliche Zusammenleben und den sozialen Zusammenhalt“, erklärte der Grünen-Politiker.
Sinkende Zustimmung in Mannheim zu Institutionen
Auch Mannheims Oberbürgermeister Christian Specht stellte in seiner Einführung die bange Frage, wie weit der demokratische Konsens heute noch trage. Zwar identifizierten sich nach wie vor die übergroße Mehrheit der Deutschen mit der Idee der Demokratie, das Vertrauen in die sie tragende Institutionen lasse allerdings nach.
So hätten 2020 noch 66 Prozent der Mannheimerinnen und Mannheimer laut Umfragen dem Gemeinderat vertraut, zwei Jahre später sei der Wert auf 57 Prozent gesunken. Der aggressive Ton in den sozialen Medien gegenüber Kommunalpolitikern und städtischen Bediensteten trage mit dazu bei, dass dieses Vertrauen weiter untergraben werde. „Wir müssen unsere Demokratie noch wehrhafter machen, als sie aktuell ist“, mahnte der CDU-Politiker.
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Für den Vorstandsvorsitzenden des DTI, Mustafa Baklan, ist der Umgang der Menschen miteinander entscheidend. Geradezu feindselig stießen die unterschiedlichen Positionen aufeinander, so dass ein respektvoller Dialog scheitere. Dies machten sich diejenigen zunutze, denen es nicht um Ausgleich und Verständigung gehe, sondern darum, menschenfeindliche Positionen in der Mitte der Gesellschaft salonfähig zu machen. „In dieser Atmosphäre sind demokratische Werte des Respekts besonders gefordert“, betonte Baklan.
Das unterstrich auch Heribert Prantl, der selbst als Richter gearbeitet hatte, bevor er zum Journalismus wechselte: „Demokratie ist nicht einmal vom Himmel gefallen und dann für immer da“. Demokratie müsse man lernen, immer und immer wieder. Demokratie sei ein Lebensprinzip und eine Wertegemeinschaft. „Demokratie gehört das ständige Nachdenken darüber, wie das am besten geht. Also: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Wie wäre es mit einer Gesellschaft, in der sich alle Menschen trotz Unterschieden in Schicksal, Rang, Talenten und Geldbeutel ebenbürtig begegnen können?“
Heribert Prantl in Mannheim sieht anstehende Wahlen als Bewährungsprobe
Vom Moderator des „Mannheimer Morgen“, Marco Pecht, gefragt, ob denn das Grundgesetz auch Bestand haben könne, wenn die Zukunftsaussichten für viele Menschen düster seien, verwies Prantl auf die Wahlen in diesem Jahr, die Europawahlen sowie die Landtagswahlen im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg: „Die Bewährungsprobe für das Grundgesetz werden die Wahlen in diesem Jahr sein.“ An diesen Tagen gelte es, die Demokratie und die europäische Idee zu verteidigen. „An diesen Tagen gilt es zu verhindern, dass Neonazis in Regierungsämter einrücken, die Gefahr war noch nie seit 1933 so groß.“
Mit Blick auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster zur Rechtmäßigkeit der Beobachtung der rechtspopulistischen AfD durch den Verfassungsschutz, das am Dienstag fiel, plädierte Prantl für ein Verbotsverfahren. „Ich verstehe nicht, warum die Parteien so einen Tanz machen und sich nicht trauen.“ Als das Bundesverfassungsgericht 2017 zum zweiten Mal einen Verbotsantrag gegen die damalige NPD abgelehnt habe, sei die Begründung gewesen, dass die Partei zwar verfassungswidrig, aber bedeutungslos sei. „Das kann man von der AfD nicht sagen“, betonte Prantl.
Und weil in diesem Jahr nicht nur in deutschen Bundesländern, sondern am 9. Juni auch das Europaparlament gewählt wird, ließ Prantl zum Abschluss noch seine verstorbene Oma zu Wort gekommen. Vielmehr: Er stellte sich vor, was sie wohl zu diesem Europa sagen würde, eine 1886 geborene Frau, die in der Schule noch gelernt habe, dass die Deutschen und Franzosen Erbfeinde seien. „Oma Maria würde vom großen ,Wunder’ reden“, so Prantl. Ein Wunder, das wie ein rohes Ei gehütet werden müsse. Deshalb: „Ich bitte Sie inständig, gehen Sie zur Wahl.“
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