Seelische Gesundheit

50 Jahre ZI Mannheim: Eine Reporterin erinnert sich

Von Schlaflabor bis MRT-Gigant: Waltraud Kirsch-Mayer hat 50 Jahre das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit journalistisch begleitet. Ihr Rückblick zum Jubiläum.

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Waltraud Kirsch-Mayer
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Mitten in der Stadt befindet sich das ZI in den Mannheimer Quadraten. © Christoph Blüthner

Mannheim. „5zig“ prangt auf der Einladung. Das Mannheimer ZI feiert am 5. Juni im Mannheimer Schloss fünfzigsten Geburtstag. Die beiden Buchstaben kürzeln „Zentralinstitut für Seelische Gesundheit“, könnten aber auch als „zukunftsträchtiger Impulsgeber“ oder „ziemlich innovativ“ interpretiert werden. Rückblick einer Journalistin, die von Anfang an die Modelleinrichtung begleitet hat – natürlich geprägt von persönlichen Eindrücken und Begegnungen, sowie ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Als Unruhe-Patienten noch am Bett festgeschnallt wurden

Ein Jahr vor Institutseröffnung, 1974, interviewte ich den Gründer und langjährigen Leiter des ZI, Heinz Häfner, das erste Mal – im Klinikum. Dort gab es in einem geräumten Außenbau der Dermatologie eine vorläufige Psychiatriestation. Das Gespräch sollte sich bei mir eingegraben: Häfner schilderte eindrücklich die in den 1960ern noch üblichen Verwahranstalten mit Bettensälen, in denen „Unruhe-Patienten“ festgeschnallt wurden, sodass ihre Gelenke versteiften.

Heinz Häfner und Hans Martini, Väter des ZI mit Weitblick

Eigentlich hatte die ZI-Geschichte weit davor begonnen. Aber nicht in Mannheim. Unvergessen ist für mich jener Kommunalpolitiker aus Heidelberg, der Jahrzehnte später doppeldeutig als „Irrsinn“ beklagte, dass eine Vision verkannt wie vergrault worden war: In der Stadt mit Deutschlands ältester Universität sollte der Medizin-Rebell Heinz Häfner mit dem Umsetzen einer Sozialpsychiatrie samt gemeindenahem Wiedereingliedern von seelisch Kranken scheitern – auch weil der lokale Fremdenverkehr öffentlich mutmaßte, „Irre in gestreiften Kleidern“ könnten im Schlossgarten Touristen verschrecken.

Reporterin Waltraud Kirsch-Mayer im Schlaflabor. © MM

Hingegen erkannte im nahen Mannheim Sozialbürgermeister Hans Martini das Potenzial sowohl für die Kommune wie auch für die junge klinische Medizin-Fakultät. Häfner und Martini, sie schrieben als „Väter des ZI“ Institutsgeschichte.

Schon zum fünften Geburtstag von der WHO „geadelt“

Die journalistische Zunft kennt so manche zunächst mäandernden Projekte. Dass dann doch ein Start gleich einer Rakete mit Erdumlaufbahn gelingt, ist selten. Bereits zum fünften Geburtstag „adelte“ die Weltgesundheitsorganisation das Modellinstitut, das Forschung, Lehre wie Krankenversorgung unter einem Dach vereint, als „unentbehrlich“ und besiegelte eine bis heute währende Partnerschaft.

Verkabelte Nacht im Schlaflabor mit Trauminterview

Abläufe seelischer Erkrankungen, ob Schwermut, Süchte, Schizophrenien, nachvollziehen und Erkenntnisse für Therapien nutzen - daran hat sich seit 1975 nichts geändert. Die ausgeleuchteten Bereiche sind vielfältig. Beispielsweise holte das ZI den Schlaf aus wissenschaftlichem Schlummer. Das „Hineinkriechen des Menschen in sich selbst“, wie Dramatiker Hebbel nächtliches Wegdämmern poetisch umschrieb, wurde und wird in einem „Betten-Labor“ mittels vermessener Körperfunktionen und Hirnströme erforscht.

Dem Psychiater Mathias Berger war aufgefallen, dass sich Menschen mit Depressionen nach dem Aufwachen besonders niedergeschlagen fühlen. Eine 1987 im ZI-Schlaflabor verkabelt verbachte Nacht sollte mich lehren: Träume mögen wie Schäume erscheinen, aber im Kopf läuft Kino ab - auch wenn wir uns daran häufig nicht erinnern. Nach abruptem Wecken aus REM-Schlaf beantwortete ich die Interviewfrage, von was mein Traum gerade gehandelt habe: „Von Leuten, die auf dem Boden herumkrochen und geturnt haben.“ Ob die Szene etwas zu bedeuten hatte, blieb ungeklärt.

Beim Denken und Fühlen anderen im Kopf zuschauen

Der Blick ins Hirn, 1975 fast Science-Fiction. Überhaupt hatte sich die Psychiatrie zunächst mit neurobiologischen Erkenntnissen schwergetan. Der Begriff „Alzheimer’sche Krankheit“ - wichtiges Forschungsfeld im ZI - tauchte zwar 1910 in einem Lehrbuch auf, aber Sigmund-Freud- Anhänger wollten nichts davon wissen, dass „zerfledderte“ Hirn-Nervenzellen samt Verklumpungen das Ich mehr attackieren können als ein Trauma.

Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. © Rinderspacher

Längst ist Hightech-Neurobiologie selbstverständlich, bei dem Mannheimer Institut allemal: Als das ZI 1980 einen Computertomographen Medien präsentierte, wurde der Bildgeber gleich einem Wunder bestaunt. Dass es möglich werden würde, anderen im Kopf sozusagen beim Denken wie Fühlen zuzuschauen, hätte sich niemand träumen lassen. Und welch gigantischer Anblick, als vor zwei Jahren per Kran ein 20 Tonnen schwerer „7 Tesla-MRT“ ins ZI-Therapiegebäude einschwebte, um psychiatrische Erkrankungen auf Ebene von Nervenzellen sichtbar zu machen, Störungen bei der neuronalen Informationsverarbeitung noch vor verändertem Verhalten wahrzunehmen.

Eine Psychose und beängstigende Achterbahnfahrt der Seele

Als Leuchtturm der Wissenschaft forschen, ist das eine - Menschen aus psychischen Krisen Wege bahnen, etwas anderes. „Track“ (Englisch für Schiene) hat eine neue Therapie-Ära eröffnet: Was ein Behandlungsgleis ohne Verschiebebahnhof, aber mit individueller Weichenstellung und möglichst konstantem Fachkräfteteam bedeutet, brachten mir Begegnungen mit Kevin S. näher. Vier Mal trafen wir uns. Beim Kennenlernen erzählte der seinerzeit bereits ambulant betreute Endzwanziger, in den beschützten bis offenen „Track“-Einheiten fünf unterschiedlich lange Aufenthalte verbracht zu haben. Ein traumatischer Verkehrsunfall mit Nervenverletzungen sowie Drogenkonsum und eine dadurch ausgelöste Psychose hatten im Herbst 2019 zu einer Noteinweisung geführt. „Ich nahm Farben und Vögel wahr, die es gar nicht gab“, schilderte er Halluzinationen.

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„Voll Misstrauen“ sei er zu Therapiebeginn gewesen, habe aber zu „seinem“ Team Vertrauen gefasst. Kevin S. kämpfte nicht nur mit seelischen Achterbahnfahrten und der Abhängigkeit von Substanzen, er suchte auch nach einer Perspektive. Beim dritten Gespräch berichtete er stolz, weg vom Cannabis zu sein, weniger Schmerzmedikamente zu benötigen. Außerdem habe man ihn unterstützt, sich eine Umschulung zuzutrauen. Zu unserer letzten Begegnung nach zehn Monaten hatte Kevin S. jene Aufgabenliste mitgebracht, die er ziemlich früh mit „seiner“ Psychologin erarbeitet hatte. Bei fast allen Zielen - wie eigene Wohnung, „loyalen und drogenfreien Freundeskreis aufbauen“ - prangte ein bestätigender Haken. Die Journalistin ließ er wissen, auch deshalb „zuversichtlich“ zu sein, weil er als „beruhigend“ empfinde, sich in einer Krise jederzeit an „seine“ Therapeuten wenden zu können.

Zehn Mal auf der Liste der meist zitierten Wissenschaftler

50 Jahre ZI stehen für eine Erfolgsgeschichte – verknüpft mit glücklichen Umständen. Dass die von Bund, Land und der Volkswagen-Stiftung etablierte Pioniereinrichtung im Herzen der Stadt residiert, ist keineswegs selbstverständlich, vielmehr Stadtsanierungsplänen zu verdanken. Dafür hatte die Kommune schon zuvor in den J-Quadraten Grundstücke aufgekauft. Obendrein wohnte hier kein Bürgertum, das gegen ein Psychiatrieinstitut Sturm gelaufen wäre, wie in Heidelberg und anderen Städten. Der größte Glücksfall waren und sind freilich Männer und Frauen unterschiedlicher Profession, die das Stärken und Erforschen seelischer Gesundheit zur Lebensaufgabe gemacht haben.

Dies gilt insbesondere für Andreas Meyer-Lindenberg, der es 2023 zum zehnten Mal in Folge auf die Liste der weltweit meist zitierten Wissenschaftler gebracht hat. Ob mit Beiträgen zur „neuronalen Risikoarchitektur“ für schwere psychiatrische Erkrankungen oder zur Erkenntnis, dass Grünflächen im urbanen Raum Schutzfaktoren für die Seele sprießen lassen. Glücklicherweise hat Meyer-Lindenberg einen Ruf des renommierten Londoner King‘s College 2017 ausgeschlagen und sich für das ZI entschieden, an dem er seit 18 Jahren als Vorstandsvorsitzender wirkt.

Mit 100 000 Euro dotierter Heinrich-Lanz-Forschungspreis

Beim Festakt samt Symposium soll auch visionär nach vorn geblickt werden. Dies unterstreicht der erstmals verliehene und mit 100 000 Euro stattlich dotierte Mannheimer Heinrich-Lanz-Preis für solche Psychiatrie-Forschung, die vom Labor eine Brücke in die klinische Anwendung schlägt. Die Auszeichnung erhält der US-Neurowissenschaftler und Schizophrenie-Experte Daniel Weinberger, der wegweisend das komplexe Zusammenspiel genetischer Mechanismen und neurobiologischer Abweichungen bei der Gehirnentwicklung erkannt hat.

Aber was bedeutet eine Krankheit wie Schizophrenie? In Erinnerung ist mir das Gespräch mit einer Mutter aus einer Angehörigen-Gruppe geblieben. „Nichts-Tun-Können“ bezeichnete sie als „das Schlimmste“. Der betroffene Sohn erzählte von jenen Phasen, in denen er denkt, andere würden ihn beim Denken ausspähen, um ihm seine Gedanken zu stehlen. Und dann fügte er hinzu: Niemand könne sich vorstellen, was dies mit einem macht.

Freie Autorin

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