Mannheim. Wie im Flug verging die Zeit im voll besetzten Spiegelschlössl auf dem Luzenberg. Klaus Schillinger erzählte auf kurzweilige Art und Weise aus seinen beiden Büchern „Luzenberg“ und „Der Alte Waldhof“ die Geschichte von den industriellen Anfängen bis in die heutige Zeit dieser beiden Stadtteile.
Zunächst vergaß er nicht, dem Luzenberger Urgestein Waltraud Esser, die einige Anekdoten zu diesem mehrfach von spontanem Applaus unterbrochenen Abend beitrug, mit einem Blumenstrauß zum Geburtstag zu gratulieren. Ein weiteres Blumengebinde überreichte der Hobby-Historiker Barbara Waldkirch, die seine beiden Bücher verlegt hat.
Im Jahre 1853, so Schillinger, kauften Vertreter der französischen „Compagnie des Manufactures de Glaces et de Verres“ die zuvor landwirtschaftlich genutzten Güter Waldhof und Luzenberg sowie weitere Grundstücke der Gemeinde Käfertal, um dort eine Fabrik zu errichten. Im selben Jahr fusionierte die Firma mit dem Werk von Saint-Gobain. Der Standort in Baden bot den großen Vorteil, dass Import- und Durchgangszölle entfielen.
Die Spiegelsiedlung wird gebaut, um Wohnungen für Arbeiter zu schaffen
Der Industrialisierungsprozess hatte auch weitreichende soziale Konsequenzen. Das Leben in Stadt und Land veränderte sich. Die Spiegelfabrik begegnete sozialen Fragen mit dem Bau eines eigenen Wohndorfes direkt bei der Fabrik. Um den Anreiz zur Übersiedlung nach Baden zu erhöhen, wurden moderne mietfreie Wohnungen für die rund 400 Arbeiter und Angestellten geschaffen, die vor allem aus Lothringen übersiedelten.
Die Spiegelkolonie wurde durch Kirchen, Geschäfte mit französischen Waren, ein Schulhaus, Kindergärten und eine Turnhalle ergänzt. Darüber hinaus wurde eine Unfall-, Kranken- und Pensionskasse geschaffen.
Für Ordnung sorgten neben dem väterlichen Direktor der Fabrik, der Schlüsselgewalt über alle Einrichtungen hatte und jede Woche die Sauberkeit kontrollierte, Fabrikpolizeidiener. Die Mitarbeiter durften sich ohne Erlaubnis nicht mehr als 1,5 Kilometer vom Werk entfernen, mussten ständig verfügbar sein und wurden bei großen Gussvorgängen per Signal in die Werkshallen gerufen.
1921 wohnten 1520 Menschen in der Spiegelsiedlung, von denen 350 auch in der Spiegelfabrik arbeiteten. 1990 hatte der Waldhof mit 49 Prozent der Erwerbstätigen den höchsten Arbeiteranteil der Quadratestadt überhaupt. Inzwischen hatten sich Firmen wie Böhringer, Roche Diagnostics, „die Zellstoff“ (Essity) oder die Chemische Fabrik Weyl und „der Benz“ angesiedelt. Nach 168 Jahren wurde 2020 die Produktion in der „Spiegel“ eingestellt.
Was Sepp Herberger, Jakob Faulhaber und Carlfried Mutschler miteinander verbindet
Auch über die Entwicklung der Schulen, die Riedbahn, die Diskussionen um eine Brücke oder einen dunklen Tunnel in den 1980er Jahren unter der Bahnlinie hindurch zum Waldhof hin oder Geschichten aus den Vereinen berichtete Schillinger. In der Waldhofschule lernten unter anderem der Architekt Carlfried Mutschler, der Widerstandskämpfer Jakob Faulhaber und Fußballlegende Sepp Herberger.
Dass die Geschichte auf dem Luzenberg und dem Waldhof lebendig ist, bewiesen die humorvollen Erzählungen des Autors, der noch lange hätte berichten können. Aber die Zeit war ihm davongelaufen.
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