Zeitreise

In Mannheim-Seckenheim steht der „Palast der Lüste“

Das ehemalige Brauerei-Gebäude im Mannheimer Vorort Seckenheim ist seit langem ein kultureller Hotspot der Region: In den 1970er Jahren sind Zarah Leander und Gert Fröbe zu Gast bei der legendären Rica Corell

Von 
Konstantin Groß
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Der „Badische Hof“ in der Seckenheimer Hauptstraße 114 heute: Unverändert geblieben sind die drei Fenster rechts vom zentralen Türbogen und die fünf links davon, hinzu gekommen die Gauben. © Heimatmuseumsverein/Konstantin Groß

Mannheim. Es sind wahre Bühnen-Legenden: Ernst Stankovski, Schauspieler am Wiener Burgtheater und Chansonnier, von 1969 bis 1977 Moderator der beliebten ZDF-Musikserie „Erkennen Sie die Melodie?“; Gert Fröbe, Bösewicht aus dem wohl schönsten James-Bond-Klassiker „Goldfinger“ von 1964; Zarah Leander, Sängerin mit tiefer Stimme und Ufa-Star der NS-Zeit, daher politisch verpönt, dennoch Kultfigur. Was die drei Größen unterschiedlicher Epochen gemein haben: Sie sind Gast einer Kleinkunstbühne im beschaulichen Mannheimer Vorort Seckenheim.

Dabei ist die Location zunächst profan. Eine Brauerei mit Gaststätte, wie damals in vielen Gemeinden üblich. Seit 1810 wird eine Wirtschaft betrieben. 1891 verkauft der Besitzer die Immobilie an den Landwirt Philipp Pfisterer, der den Betrieb ausbaut: „Bleib heimattreu – trink Pfistererbräu“ lautet der Slogan. Über drei Generationen hinweg.

Der „Badische Hof“ in der Seckenheimer Hauptstraße 114 im Jahre 1898. © Heimatmuseumsverein/Konstantin Groß

Die Gastwirtschaft, der „Badische Hof“, entwickelt derweil ihren Ruf als Hort geselligen und gesellschaftlichen Lebens. Hochkarätig besetzte Stammtische und wichtige Vereinsgründungen haben hier ihren Platz: 1896 die Schützengesellschaft, 1904 der Frauenverein unter Leitung von „Frau Bürgermeister“.

Die Ära Rica

1919 wird ein Jugendstilsaal errichtet, in dem rauschende Feste stattfinden. Bälle und Kerwetänze, Fasnachtssitzungen und Operettenabende. Den Start seiner wirklichen Blütezeit markiert das Jahr 1965: Eine gewisse Henriette Seyfferth übernimmt das Lokal, als Rica Corell längst eine Institution in der Stadt.

Geboren 1921 in Hamburg als Tochter eines Kapellmeisters, absolviert sie die Meisterklasse der Hamburger Staatsoper, heiratet Ernst „Balbo“ Seyfferth, ebenfalls ein umtriebiger Kapellmeister. 1954 gastieren die beiden in Mannheim, lernen Jochen Brauer kennen und damit auch die Stadt lieben. Sie bleiben hier hängen, eröffnen in H 5, 4 in der Filsbach, nicht nur dem Namen nach etwas Anderes als heute, die Kleinkunstbühne „Simplicissimus“.

1973: UFA-Star Zarah Leander (l.) zu Gast bei Rica Corell. © Gerd Schwetasch

„Schwarze moderne Tapeten mit weißen Mustern, rot, gelb und schwarz bezogene Stühle“, vermeldet der „MM“ am 3. September 1955 zur Eröffnung. Der Schuppen ist winzig, Platz für ein Dutzend Tische, einfache Toulouse-Lautrec-Drucke an den Wänden. Joe Hackbarth präsentiert Bilder und Jazz, der noch unentdeckte Horst Jankowsky sitzt am Klavier. Wolfgang Lauth dagegen ist schon auf dem Weg zum Star, ganz zu schweigen von Kabarettist Werner Finck, auch im Kino präsent.

1960 ist hier Schluss, begleitet von einem Patentstreit über den Lokal-Namen. Die pfeifende Wirtin wechselt in die „Maruba“ an der Feudenheimer Schleuse, weit vom Schuss der Innenstadt. Fünf harte Jahre, nur dank vieler Freunde zu überstehen.

1965 der Umzug nach Seckenheim, Hauptstraße 114. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer. Balbo ist krank, stirbt 1967, ganze 61. Trotzdem startet Rica durch. 1968 belebt sie das „Simpl“-Konzept neu.

Kleinkunstbühne Palü und Restaurant „Badischer Hof“

Lage: In Mannheim im Stadtteil Seckenheim, Hauptstraße 114, in einem weißen Barockgebäude mit Schriftzug „Brauerei Pfisterer“.

Erreichbarkeit: Mit der direkt vor dem Haus verkehrenden Stadtbahn, Autostellplätze wenige Gehminuten entfernt am Schloss, Hauptstraße 68.

Das aktuelle Programm ist im Web oder als Broschüre vor Ort zu erhalten. Das Jahresprogramm für 2023 erscheint im November 2022.

Anstehende Veranstaltung: Freitag, 18. November, 20 Uhr, Pit Hartling, Zauberer und Kabarettist. Im Keller: 31. Oktober, 20 Uhr: Halloween-Party mit der Palü-Hausband, 10 Euro..

Palü-Team: Andreas Hänssler (Gesamtleitung), Regina Hänssler („die gute Fee für alles“), Ulli Bühler (Kartenmanagement), Johannes Bähr (Bühnentechnik), Horst Schwabach (Fotograf), Jörg Knobloch (Marketing, Öffentlichkeitsarbeit).

Weitere Informationen: im Internet unter www.palue-mannheim.de

Restaurant „Badischer Hof“: ausschließlich deutsche Küche.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Donnerstag 11.30 bis 13.45 und ab 17.15 Uhr, Freitag und Samstag 11.30 bis 14 und ab 17.15 Uhr, Sonntag 11.30 bis 14.30 Uhr. www.badischerhof.net.

Pächter der Gaststätte ist seit 14 Jahren Klaus-Peter Wamich, zuvor u. a. Caterer für Porsche bei den DTM.

Locations: Neben dem Gastraum mit 70 Plätzen und dem Festsaal mit 120 Plätzen gibt es den Keller mit 100 Plätzen und die Vinothek mit 50 Plätzen. Außenbereich wird im Sommer bewirtschaftet – im Biergarten und im Durchgang des Torbogens. -tin

Zu Gast sind der junge Peter Horton, Fred Bertelmann, Hans-Dieter Hüsch, Peter Kreuder, Evelyn Künneke, mehrmals Ernst Stankovski und sogar die legendäre Zarah Leander. Beim letzten Mal, 1973, macht sie auf ihrer Abschieds-Tournee neben Wien, Madrid, Paris und London hier Station. In Deutschland weiterhin politisch umstritten und dem Ende ihrer Karriere nahe, ist die 66-Jährige auch für dieses Engagement dankbar, doch eitel wie eh und je: Im Vorfeld übermittelt die Diva an Rica, wann und von wo aus sie fotografiert werden darf. „MM“-Fotograf Gerd Schwetasch weiß sich zu helfen: Er besorgt sich ein leistungsstarkes 200er Teleobjektiv.

Wenn sie nicht gerade in der Küche steht, tritt Rica an manchen Abenden selbst auf, singt und pfeift, „natürlich nur, wenn‘s recht ist“, wie ihr Standardspruch lautet. 1980 feiert sie ihr 25. Bühnenjubiläum, mit der unsterblichen Brigitte Mira.

Der historische Festsaal, 1919 errichtet und 2001 restauriert. © Konstantin Groß

1984 geht es zurück in die City, in die Weinstube „Sonnenschein“ in der Schwetzinger Vorstadt. „Mitten drin das verschrammte Klavier, das alle Umzüge mitgemacht hat“, schreibt der „MM“: „Wer keinen Platz findet, umlagert die Bar.“ Hier stehen, da ohne richtige Bühne, auch die Musiker. Der bereits berühmte Wolfgang Lauth ebenso wie der Schriesheimer Eugen Fallmann. „Noch nachts um eins hat sie für uns Spargel gekocht“, erinnert der sich.

1994 ist auch hier Schluss. Die Abschiedsgala in der Rheingoldhalle kann Rica noch miterleben; wer im Kulturleben der Region Rang und Namen hat, erweist ihr die Ehre. Es wird die letzte Ehre. Rica stirbt 1995. Sohn Ernie wechselt in die „Orderstation“ auf die Friesenheimer Insel.

Neubeginn mit Hänssler

Und der „Badische Hof“? Nach dem Auszug von Rica übernimmt Elisabeth Schmidt das Lokal. Der legendäre Saal wird nur noch für Familienfeste genutzt, fällt in einen Dornröschenschlaf. Der Prinz, der ihn erweckt, heißt Andreas Hänssler.

Er kannte Rica nicht. Aber am Gebäude läuft der Neubürger täglich vorbei. „Es ist Liebe auf den ersten Blick“, bekennt er. Am 6. Dezember 2000 meldet er bei der Besitzerin, der Brauerei, sein Kaufinteresse an. Diese, längst in schwerem ökonomischen Fahrwasser, greift zu. Bereits am 21. Dezember folgt der Notartermin, zum 1. Januar die Übernahme.

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Hänssler macht sich daran, dem Juwel den Schliff zu verleihen. Der Saal wird kunstvoll restauriert, die Zwischendecke entfernt. Unter den Tapeten finden sich Zeugnisse der dunkelsten Zeit dieses Bauwerks, die Hakenkreuze werden entfernt, die Bleiglas-Fenster von 1889 dagegen erhalten. Die Spiegel erwirbt Hänssler vom Mitwagen-König Raule aus dessen Oldtimermuseum Epstein.

Ein Markenname

Und wie kommt es zum Namen Palü? Ein Aufruf an die Gäste bringt interessante Ideen, doch der Funke will nicht überspringen. Die Lösung bringt ein Gespräch Hänsslers mit Freunden. In weinseliger Runde fällt, unter Anspielung auf Hänsslers Passion, der Satz: „Das ist doch Dein Palast der Lüste“ – abgekürzt: Palü. Ein Markenname ist geboren.

Denn er wird zur Institution, quasi zum kleinen Bruder von Schatzkistl und Klapsmühl. Beim Start des Kartenverkaufs bildet sich eine lange Schlange um das ganze Quadrat. Nach einer halben Stunde heißt es „ausverkauft“ – wie seither immer wieder. Mit einer Ausnahme, unmittelbar nach der Corona-Pandemie.

Zehn Veranstaltungen gibt es pro Jahr, mit Ausnahme des Sommers jeden Monat eine. Bislang also 200 mit 130 Künstlern. Bloomaul Joana tritt 2003 als erste auf. Kabarett-Giganten wie Nuhr & Co. jedoch sind nicht finanzierbar; das Fernsehen macht die Preise kaputt.

2008 wird auch der Keller saniert und für Konzerte sowie für die beliebten Jam Sessions genutzt. Andreas Hänssler, der in den 1960er Jahren übrigens seine erste eigene Band gründet, ist auch hier immer dabei.

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