Manchmal geht es um Leben und Tod, es gibt riskante Einsätze und Fahrten, die nur schwer zu ertragen sind. Wer sich dazu entschließt, Rettungssanitäter zu werden, nimmt viele Anstrengungen auf sich. Und erreicht mitunter einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht. Der herausfordernde Arbeitsalltag und die Konkurrenz im Gesundheitswesen machen es Trägern im Rettungsdienst immer schwerer, ihre Mitarbeiter zu halten. Um an dringend benötigte Fachkräfte zu kommen, hat der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) in Ludwigshafen ein Pilotprojekt gestartet: Der ASB rekrutiert Fachkräfte aus der Türkei, um vakante Stellen zu besetzen.
Personalmangel und Bagatellfälle
Initiator des Projekts ist Fatih Celikel. Seit 2007 arbeitet der 34-jährige im Rettungsdienst, seit 2021 ist er als stellvertretender Leiter für den Rettungsdienst des Arbeiter-Samariter-Bundes in Ludwigshafen tätig. Seit Jahren beobachtet er, wie der Fachkräftemangel seinen Kollegen und Mitarbeitern die ohnehin körperlich und psychisch anstrengende Arbeit erschwert.
Weil Mitarbeiter fehlen, können Stellen dauerhaft nicht besetzt werden. Zudem werden Sanitäter nach dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung von anderen Trägern oder Kliniken abgeworben. Die dreijährige Ausbildung des Notfallsanitäters ist kosten- und zeitintensiv, nach dem erfolgreichen Abschluss gelten Absolventen als hoch qualifizierte medizinische Fachkräfte, ihnen stehen im Gesundheitswesen alle Türen offen.
Frustration entsteht bei berufstätigen Notfallsanitätern nicht nur durch die vielen Zusatzeinsätze, die sie wegen personeller Lücken übernehmen müssen. In den letzten Jahren beobachten Celikel und seine Kollegen eine Zunahme von „Bagatellanrufen“, wenn Sanitäter also zu Notfall-Einsätzen gerufen werden, die keine sind. „Oma hat Rückenschmerzen“ oder „Können Sie mir beim Anbringen meines Pflasters helfen?“ seien überflüssige Hilferufe, wegen denen Celikel und seine Kollegen nachts unterwegs seien. Allein in Hessen stieg 2021 die Zahl an solchen Anrufen im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent, also um 66000 Einsätze, die keine sein müssten. Für andere Bundesländer zeichnen erfahrene Berufspraktiker wie Celikel ein ähnliches Bild.
„Wie kann ich dieses Problem dauerhaft lösen?“, fragte sich Celikel, als er mal wieder grübelnd vor einem Dienstplan saß, der wegen Personalausfällen kurzfristig geändert werden musste. Durch Celikels gute Kontakte zum türkischen Rettungsdienst kam ihm die Idee, Fachkräfte aus der Türkei zu holen.
Dann, etwa vor einem Jahr, lernte Celikel Can Dursun Yesil aus der Türkei kennen. Der Kollege hatte in seiner Heimat eine Ausbildung sowie ein Studium zur medizinischen Fachkraft absolviert. Und Celikel erwog, ihn nach Deutschland holen, wo er, seine Kolleginnen und Kollegen dringend Unterstützung brauchen.
Ein Jahr dauerte es, bis die Anträge ausgefüllt und alle bürokratischen Hürden aus dem Weg geräumt waren. Ab August kann Yesil nun seine Arbeit als Notfallsanitäter in Ludwigshafen aufnehmen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz vom 1.März 2020 sieht eine Vereinfachung und Beschleunigung der bürokratischen Abläufe und eine Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse vor.
Insgesamt überwiegen für ausländische Fachkräfte aber die bürokratischen Hürden, weshalb nicht wenige in Länder wie Kanada, die Schweiz oder die USA auswandern. In Staaten, die ebenfalls um die heiß begehrten Fachkräfte buhlen.
Angst vor Gewalt in der Heimat
Celikel erlebt, dass die aus der Türkei mitgebrachten Abschlüsse nicht vollständig anerkannt werden, zum Teil müssen die Fachkräfte bis zu 1000 Stunden Praxiseinsatz leisten und Sprachkurse besuchen.
Die ausgebildeten Kollegen aus der Türkei besitzen in ihrer Heimat wegen ihres Beamtenstatus einen grünen Pass und unterliegen somit weniger restriktiven Einreisebeschränkungen. Mehrheitlich stammen sie aus westlichen Großstädten des Landes und beobachten mit Sorge die zunehmend autoritären Züge der türkischen Regierung. Gerade diese Angst vor der politischen Zukunft und die Zunahme an Gewalt gegenüber medizinischem Fachpersonal in ihrem Heimatland lässt sie einen Neuanfang in einem anderen Land erwägen.
Inzwischen genießt das Pilotprojekt in Ludwigshafen auch beim Landes- und Bundesverband des ASB Anerkennung. Das Modell könnte demnach sogar bundesweit Schule machen. Bei einer Konferenz in Köln, zu der alle Landesverbände des ASB eingeladen sind, soll Celikel über die Rekrutierung der türkischen Fachkräfte sprechen.
„Die Qualität der Arbeit ist einwandfrei, die einzige Hürde ist die Sprachbarriere“, sagt Celikel. Wer sehr gut Deutsch gelernt habe, schaffe es oft dennoch nicht, in einer Notfallsituation klar zu kommunizieren. Auch regionale Dialekte erschweren die Verständigung oft, sagt Celikel. Um dieses Problem aus dem Weg zu schaffen, bietet der ASB fachspezifische Sprachkurse an und investiert in die neuen Kollegen aus der Türkei.
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Inzwischen erhält der engagierte Ludwigshafener Celikel Vortragsanfragen von türkischen Universitäten, um über sein Herzensprojekt zu sprechen. Celikel, dessen Opa in den 60er Jahren aus der Türkei nach Ludwigshafen kam, weiß aus Erzählungen seiner Großeltern, was es heißt, in einem fremden Land bei Null anzufangen. „Die vollständige Einarbeitung in die Arbeitsabläufe und die Integration der Fachkräfte aus der Türkei sind mir ein wichtiges Anliegen“, sagt er. „Dauerhaft können wir mit diesem Projekt eine Win-Win-Situation für beide Seiten schaffen: Wir bekommen qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und die türkischen Fachkräfte bekommen die Chance auf ein Leben in einer freien Demokratie“.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Fachkräftemangel: Aus der Not eine Tugend machen