Ludwigshafen. Funktionieren. In den ersten drei bis vier Wochen ging es für Kurt und Maja Sprengart nur darum. Weiterzumachen. Irgendwie auf Autopilot zu schalten, um nicht in der Schockstarre zu verharren. Es musste einiges abgearbeitet werden. All die furchtbar bürokratischen Dinge, die notwendig sind, wenn ein Mensch stirbt. Die fast keinen Raum lassen, um zu trauern und das Unbegreifbare zu begreifen. Zu realisieren, dass der älteste Sohn tot ist. Jonas. Gerade 20. Aus dem Leben gerissen bei einem brutalen Messerangriff auf offener Straße im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim im Oktober.
"Kein Tag, an dem wir nicht zusammen weinen"
Beerdigung. Trauerfeier. Kerzen. Blumen. Das brutale Bewusstsein trifft die Eltern erst nach vier bis fünf Wochen. „Dieser unfassbare Schmerz. Das alles bricht jetzt mit voller Wucht heraus. Dagegen gibt es keine Medizin“, sagt Kurt Sprengart im Gespräch mit dieser Redaktion. „Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht zusammen weinen.“
Seit dem 18. Oktober, dem Tag, an dem mutmaßlich ein 25-jähriger Somalier in der Philipp-Scheidemann-Straße Jonas und dessen 35-jährigen Arbeitskollegen Sascha tötete, ist für Kurt und Maja Sprengart alles anders. „Es ist mehr ein Überleben als ein Leben.“ Ein Überleben auch für ihren jüngeren Sohn, Noel, der 15 Jahre alt ist. Und für die drei Mitarbeiter des Raumgestaltungsbetriebs, den Kurt Sprengart in Ruchheim führt, und für den auch die beiden Getöteten gearbeitet haben.
Weihnachten steht vor der Tür. Das Fest der Liebe. Das Fest der Familie. Für die Sprengarts wird es nie wieder so sein wie zuvor. „Weihnachten war immer eine schöne Zeit. Wir haben mit der ganzen Familie gefeiert, mit unseren Söhnen“, sagt der Vater. „Jonas fehlt.“
Die Feiertage in Ludwigshafen zu verbringen, in den vier Wänden, in denen so vieles an den 20-Jährigen erinnert, ist für die Eltern undenkbar. „Wir hätten es nicht ertragen“, sagen sie. Deshalb sind sie zu Freunden gefahren. Weit weg von Ludwigshafen, weit weg von Zuhause, weit weg von all den Erinnerungen.
Spendenkonto für Überlebende und Angehörige
- Für die Angehörigen und den Überlebenden des Messerangriffs von Oggersheim am 18. Oktober hat die Stadt ein Spendenkonto eingerichtet.
- Unter der IBAN DE 32 5455 0010 0193 9954 53 mit der Bezeichnung Spendenkonto Oggersheim können Spenden überwiesen werden.
- Mit dem Geld soll den Hinterbliebenen geholfen werden.
Doch die Bilder im Kopf können Kurt und Maja Sprengart nicht einfach abschütteln und zurücklassen. Insbesondere den 55-jährigen Vater suchen sie heim, sie quälen ihn. Er war noch vor der Polizei am Tatort, sah seinen toten Sohn in einer großen Blutlache auf dem Boden liegen. Wenige Meter weiter seinen Freund Sascha, der den Betrieb einmal von ihm übernehmen sollte. Vater einer kleinen Tochter.
„Diese Bilder, ich kriege sie nicht mehr aus dem Kopf. Wenn ich mich abends müde und erschöpft ins Bett lege, dann komme ich immer wieder an derselben Stelle raus, egal, wie sehr ich es auch vermeiden will. Und morgens, nach vielleicht zwei Stunden Schlaf, lande ich wieder dort.“
Jonas' Zimmer bleibt verschlossen
Hilfe erhält Kurt Sprengart in einer Trauma-Ambulanz. „In meinem Kopf ist derzeit alles durcheinander, und ich soll lernen, diese Themen in Schubladen abzulegen“, erklärt er. Noch ist das aber nicht möglich. Noch sind die Trauer und der Schmerz zu groß. Bilder, Schuhe und andere Gegenstände, die an Jonas erinnern, haben die Eltern zuhause wegräumen lassen, weil es sie bei dem Anblick zerreißt. Das Zimmer ihres Sohnes können sie nicht betreten.
Ruhig und zurückhaltend sei Jonas gewesen, berichten die Eltern. „Er war so lieb und hat nie über irgendjemanden geschimpft. Wie sehr ihn die Menschen mochten, haben wir vor allem im Nachhinein erfahren, von Freunden und Bekannten.“
Riesengroß war die Anteilnahme nach der brutalen Tat im Oktober. Zu einem Trauermarsch für die Opfer kamen mehr als 1000 Menschen. „Wir waren sehr gerührt, dass so viele Leute mit uns fühlen“, sagt Sprengart. In den vergangenen Wochen habe die Aufmerksamkeit dann aber naturgemäß etwas nachgelassen. „Wir verstehen das. Aber wir wollen nicht, dass es in Vergessenheit gerät“, sagen die Eltern.
Der Verlust ihres ältesten Sohnes ist für die Familie nicht nur eine emotionale Tragödie, sondern hat auch wirtschaftliche Folgen. Nach der blutigen Messerattacke, bei der in einem Drogeriemarkt in der Comeniusstraße noch ein dritter Mann schwer verletzt wurde, musste der Vater seinen Betrieb für drei Wochen schließen. „Das hat einen Umsatzverlust von 25 000 Euro verursacht. Wenn die Firma in den Vorjahren nicht so gut gelaufen wäre, hätte ich sie zumachen können. Dann hätte der Täter nicht nur zwei Familien, sondern auch noch ein Unternehmen zerstört“, sagt der 55-Jährige.
Das verlorene Geld wird Sprengart nicht ersetzt. Für Selbstständige sieht die Opferhilfe in Rheinland-Pfalz keine entsprechende Unterstützung vor, berichtet er. Für die Familie ist das eine Enttäuschung und ein herber Schlag. Auch, weil das Geschäft deutlich schlechter läuft als vor der Tat. „Wegen der Unsicherheit haben sich viele Kunden umorientiert und wir haben weniger Aufträge“, berichtet der 55-Jährige.
Vater will Antworten
Im kommenden Jahr wird dem mutmaßlichen Angreifer voraussichtlich der Prozess gemacht. Der Leitende Oberstaatsanwalt in Frankenthal, Hubert Ströber, hatte zuletzt mitgeteilt, dass die Anklageerhebung keinesfalls mehr in diesem Jahr erfolgen werde. Zu einem möglichen Motiv hat sich der 25-jährige Verdächtige bis heute nicht geäußert. Er wird derzeit psychiatrisch untersucht.
Auch wegen der beißenden Ungewissheit will Kurt Sprengart dem Prozess beiwohnen, anders als seine Frau. „Ich will erfahren, was passiert ist mit meinem Kind. Was die Gründe waren“, sagt der Vater. Vielleicht kann die Aufarbeitung in einer Hauptverhandlung ihm dabei helfen, das Geschehene zu verarbeiten. Vielleicht endet eines Tages nicht jeder Gedankengang wieder bei denselben grässlichen Bildern. Vielleicht können Kurt, Maja und Noel irgendwann wieder ein Weihnachten als Familie zuhause verbringen.
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