Ludwigshafen. Auf die Idee muss man erst einmal kommen. Einen Jahreswechsel-Kitsch-Klassiker so umzukrempeln, dass am Ende doch auch Traditionalisten zufrieden sind, ist nicht leicht. Die spanische Choreographin Bianca Li hat es mit ihrer in Frankreich ansässigen Compagnie trotzdem gewagt - und im Theater im Pfalzbau mit gleich zwei gut besuchten Vorstellungen gezeigt, wie gut das gelingen kann.
Der Ballettklassiker „Casse-Noisette“, auf Deutsch als „Der Nussknacker“ bekannt, tourt in mehr oder weniger originalen Fassungen der Uraufführung von Marius Petipa und Lev Ivanov seit Ende November mit unzähligen Compagnien durch die ganze Welt. Schuld ist der Weihnachtsbaum auf der Bühne, unter dem das Geschehen beginnt. Clara bekommt dort vom zauberischen Onkel Drosselmeier eben jenen hölzernen Freund geschenkt, der in der Nacht lebendig wird und sie in eine bunte Fantasiewelt entführt.
Acht quirlige Tänzerinnen und Tänzer aus Madrid im Pfalzbau
Das dritte romantische (und letzte) Ballett Peter Tschaikowskys entstand auf Basis einer Erzählung Alexandre Dumas (d. Ä.), die wiederum eine französische Adaption des von E. T. A. Hoffmann 1816 verfassten Märchens „Nußknacker und Mausekönig“ ist. Kultur bewegt sich, sie adaptiert, und mit Blick auf heutige Urheberstreitigkeiten um drei Tonfolgen, muss leider festgestellt werden, dass die ältesten Kulturtechniken eben Nachahmung, Diebstahl und Interpretation heißen. In der Ballettwelt ist das nicht anders, und so haben Choreographen wie Balanchine, Nurejew oder Béjart den Klassiker für eigene Interpretationen genutzt.
Choreographin Blanca Li
- Die 1964 in Granada geborene Spanierin studierte fünf Jahre lang in New York bei Martha Graham Ballett. Weitere Lehrer waren Paul Sanasardo, Alvin Ailey und Merce Cunningham.
- Zurück in Europa, gründete sie 1992/93 in Paris ihre eigene Tanzkompanie. In der Spielzeit 2001/02 war sie künstlerische Leiterin des BerlinBalletts an der Komischen Oper.
- Ab 2006 war Li Leiterin des Centro Andaluz de Danza in Sevilla, choreographierte an der Pariser Oper und am Théâtre du Châtelet. Von 2019 bis 2024 leitete sie das Teatros del Canal in Madrid.
Die Hip-Hop-Version der spanischen Choreographin Blanca Li und ihrer acht quirligen Tänzerinnen und Tänzer aus Madrid passt daher erstaunlich gut zur Werkgeschichte des Nussknackers.
Mit humorvoller Poesie und einem energiegeladenen Ensemble gelingt es Blanca Li, dem Weihnachtsmärchen eine neue, sehr heutige Dynamik zu verleihen. Das gilt auch für die Musik: Tao Gutierrez hat die Musik Tschaikowskys durch Soul-, Funk- und andere Old-School-Hits ergänzt und die russische Seele mit spanischem Feuer entfacht.
Exzellente Interpreten wirbeln schneller als die Schneeflocken
Auf Blanca Lis ausgelassener Weihnachtsparty gibt es ganz rustikal Pizza und die „Festgäste“ tragen Trainingsanzüge und Baseball-Caps statt biedermeierlicher Abendrobe. Das hat einen Grund, schließlich geben die acht technisch virtuosen Tänzerinnen und Tänzer alles zum Besten, was die Streetdance-Kultur in den letzten 60 Jahren zu bieten hatte: Popping, Boogaloo und Breakdance und vor allem atemberaubendes Locking.
Wem die Begrifflichkeiten nichts sagen, darf sich darunter tanzende Roboter, weit ausschreitende Figuren im Stile von Comic-Figuren, schnelle Kicks, Kreiseln auf dem Rücken und auf dem Kopf (Headspin) vorstellen. In Letzteren bewegt sich vor allem Kevin Staincq auf absolutem Meisterniveau und stellt die Ballettpirouetten ganz buchstäblich auf den Kopf.
Auch als der zum Prinzen gewandelte Nussknacker (Nelson Ewande) Clara (Lidia Rioboo Ballester) zur Konfitürenburg führt, geht es munter zu, der berühmte Volkstanzteil wird hier solistisch wie humoristisch adäquat umgesetzt. Tianée Achille beweist im Arabischen Tanz großes Talent, Laura Coduti hat für den Spanischen Tanz eine Menge Flamenco im Blut. Auch der Trepak ist wieder grandiose Kopfsache - und dem Publikum heftigen Szenenapplaus wert.
Mit heutigem Humor und viel Liebe zum Zauber des Originals
Das ganze hat durch eingestreute Salsa-Elemente nicht nur ordentlich Latinità, sondern auch Humor. Mit Selbigem parodiert das Ensemble Militärparaden, tanzt in übermütiger Rutschpartie durch den Schnee und läuft zu Schneeflocken- und Blumenwalzer synchron Schlittschuh. Vieles ist anders, Tschaikowskys Tänze von Rohrflöten und Zuckerfee, werden auf ander Figuren und Szenen übertragen und doch bleibt die Geschichte erhalten.
Die Liebe zum Original ist spürbar, und als atmosphärischer Schachzug darf auch die zwischen Tradition und Moderne oszillierende Bühne gelten. Hier und da blitzt auch im Hip-Hop ein traditionelles Zitat auf, eine klassische Hebefigur da, eine Arabeske dort. Die Begegnung zwischen zaristisch-romantischer Hochkultur und urbanem Heute ist freilich höchst kurios, funktioniert aber brillant.
Blanca Li ist trotz Streichung der klassischen Ballettsprache etwas gelungen, was Jung und Alt zu faszinieren vermag. Kinder ab sechs Jahren sind fasziniert und auffallend still, Großmütter und Eltern loben pfälzisch: „S’wa ga nädd soo schlecht!“ Im Ergebnis nennt man es ein Familienstück; und als solches wurde es auch eingekauft - und heftig gefeiert.
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