Ludwigshafen. „Ich hatte Angst vor dem Film.“ Dies gestand Intendant Michael Kötz am Samstagabend beim Festival des deutschen Films in seiner Laudatio zur Verleihung des Ehrenpreises an die 92-jährige Regie-Ikone Edgar Reitz. Als der Altmeister ihm im vergangenen Jahr mitgeteilt habe, er drehe ein neues Werk, habe Kötz sich gefragt: „Kann man in diesem Alter noch etwas wirklich Gutes schaffen?“ Die Zweifel sind zerstoben. „Leibniz - Chronik eines verschollenen Bildes“ sei erneut ein Werk geworden, das in die Filmgeschichte eingehen wird, schwärmte der Festivalchef.
Natürlich würdigte er Reitz‘ epochales „Heimat“-Opus, das in drei Staffeln mit insgesamt 30 Teilen deutsche Geschichte aus der Sicht von Bewohnern eines Hunsrückdorfes schilderte und international Erfolge feierte. Kötz rief aber auch in Erinnerung, dass der Weg zum Ruhm alles andere als geradlinig verlief.
Edgar Reitz ausgezeichnet „Ein Wahrheitssuchender mit den Mitteln der Filmkunst“
Mit „Der Schneider von Ulm“ habe Reitz 1978 den Tiefpunkt seiner Karriere erlebt: Verrisse, finanzieller Ruin, Verlust der Wohnung. Trotz dieser Lebenskrise fand und verfolgte er seinen ganz persönlichen Stil, der ihn auf den Gipfel seiner Karriere führte. Er sei „ein Wahrheitssuchender mit den Mitteln der Filmkunst“, würdigte ihn Kötz.
Der Geehrte, der im ausverkauften Kinozelt von 1200 Besuchern minutenlang gefeiert wurde, sagte in einer kurzen Ansprache mit brüchigem Timbre, er sei „zu Tränen gerührt“. Ganz anders sein Auftritt beim Talk mit Kötz zwei Stunden später. Im rappelvollen Gesprächszelt sprach Reitz mit fester Stimme, gedanklicher Schärfe und höchster Eloquenz. Die Filmkunst stecke immer noch in der Pionierzeit, weil sie sich zu stark an der traditionellen Dramaturgie des Theaters orientiere, sie brauche neue Präsentationsformen, kritisierte er mit Blick auf die Blockbuster-Ästhetik Hollywoods.
Publikum feiert „Leibniz“ beim Festival des deutschen Films mit Ovationen im Stehen
Davon ist sein neuer, in Ludwigshafen umjubelter „Leibniz“-Film meilenweit entfernt. Ein grandioses Alterswerk, das die Zuschauer fordert: mit gehaltvollen Dialogen, unorthodoxen Schnittfolgen, kammerspielartiger Reduktion. Es handelt davon, dass der Philosoph Leibniz von einem Maler porträtiert werden soll. Doch eigentlich geht es um die Frage, ob Kunst (und damit auch Kino) die Wirklichkeit abbilden kann - und um Gott, Existenz, Tod.
All das wird thematisiert in geschliffenen Zwiegesprächen (Co-Autor: Gert Heidenreich) zwischen Leibniz und dem eitlen Maler Delalandre (Lars Eidinger), die sich einen verbalen Schlagabtausch liefern, bis der Geck erzürnt das Weite sucht. Als auf ihn die sensible Malerin Aaltje Van De Meer (Aenne Schwarz) folgt, geraten die Gespräche zu einem spannenden geistreichen Diskurs.
Trotz aller Intellektualität kommt auch der Humor nicht zu kurz. Den bringt vor allem Eidinger ins Spiel, der den Künstlernarzissten mit feiner Ironie verkörpert. In der Titelrolle brilliert Edgar Selge mit intensiver Zurückgenommenheit, eine Meisterleistung. Die Meisterschaft des Regisseurs zeigt sich in jeder Einstellung, den bis ins Kleinste ausbalancierten Bildproportionen, der subtilen Lichtdramaturgie. Hier erstrahlt der reiche Erfahrungsschatz einer großen Künstlerpersönlichkeit.
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