Ludwigshafen. Noch einmal schlafen, dann beginnen in Rheinland-Pfalz die Schulferien. An diesem Freitag gibt es Jahreszeugnisse - auch für jene 39 Kinder aus der Gräfenauschule, die den bundesweiten Ruf Ludwigshafens als in weiten Teilen abgehängte Stadt einmal mehr bestätigt haben. Als im April bekannt wurde, dass im Stadtteil Hemshof derart viele Kinder die erste Klasse würden wiederholen müssen, da ging ein Aufschrei durch das ganze Bundesland. Ein Bildungsausschuss in Mainz widmete sich Anfang Mai dem Problem, und die zuständige Ministerin Stefanie Hubig (SPD) kündigte an, der Schule helfen zu wollen.
Mehrere Grundschulen betroffen
Dabei ist die Gräfenauschule nur eines von vielen Beispielen in Rheinland-Pfalz. Auch in anderen Grundschulen bleiben am Freitag wieder mehr als ein Dutzend Erstklässer sitzen - weil sie in diesem Schuljahr im Rechnen kein Gefühl für kleine Zahlenmengen entwickeln konnten. Oder weil sie in die Schule kamen, ohne die deutsche Sprache sprechen zu können. Oder weil sie aufgrund des oft fehlenden Kita-Platzes kaum wissen, wie das ist, wenn man plötzlich mal eine Schulstunde lang still sitzen soll. „Vorläuferfähigkeiten“ heißen diese Kompetenzen im Lehrerinnen-Sprech. Das sind Dinge, die Kinder normalerweise ins erste Schuljahr mitbringen sollten. Aber: In Ludwigshafen fehlen 2000 Kita-Plätze. Auf ihren Rechtsanspruch haben betroffene Eltern bereits im Februar auf einer Kundgebung hingewiesen. Die Stadt bestätigte damals, dass es an Platz und an Erzieherinnen mangele. Parallel gibt es Eltern, die ihr Kind von sich aus nicht in die Kita schicken, was für den Spracherwerb nach Expertenmeinung aber immens wichtig wäre.
Ohne Abmeldung in den Urlaub?
Doch wie schnell kann ein Gegensteuern seitens der Landespolitik in Rheinland-Pfalz funktionieren? Und findet ein Gegensteuern überhaupt statt? Weit über 90 Prozent der Kinder an der Gräfenauschule haben keine Wurzeln in Deutschland. Teilweise ist den Eltern nicht mal bewusst, dass Schule hierzulande zum Pflichtprogramm gehört. Wer vermittelt den sogenannten bildungsfernen Haushalten nachhaltig, dass der erste Schritt für eine einigermaßen erfolgreiche Biografie hierzulande das Erlernen der deutschen Sprache ist?
Barbara Mächtle ist Schulleiterin an der Gräfenauschule und seit 2004 im Hemshof. Vergangene Woche rückte dort „ihre“ Sozialarbeiterin aus. Ein Kind war in den vergangenen Tagen unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben, berichtet die Rektorin. An der Wohnanschrift habe niemand die Tür geöffnet. Die Vermutung der Schulleiterin: Der Sommerurlaub hat hier unerlaubt eine Woche früher begonnen. Wird dieses Verhalten sanktioniert? Und wird ein eventuell verhängtes Bußgeld tatsächlich bezahlt?
Schule kann nur funktionieren, wenn es individuelle Lösungen gibt.
Als Mächtle die Missstände an ihrer Schule im Frühjahr offen ansprach und mit Kritik nicht sparte, war das Konzert der Stimmen, die sich dazu äußerten, recht laut. Auch das rechte Spektrum hatte schnell Erklärungen parat. „Die Existenz von nicht-deutschsprachigen Parallelgesellschaften, die keinerlei Kontakt zur deutschen Mehrheitsgesellschaft pflegen“, nannte der Ludwigshafener AfD-Fraktionssprecher.
So würde es Barbara Mächtle wohl nicht ausdrücken, aber auch sie hat in den Jahren nüchtern beobachtet, dass viele Kinder die deutsche Sprache im Hemshof zum Überleben nicht brauchen. Als Lehrerin ist sie überzeugt: „Auch diese Kinder haben es verdient, dass man sich für sie einsetzt.“ Ihre Meinung ist klar: „Schule kann nur funktionieren, wenn es individuelle Lösungen gibt.“ Damit meint sie, dass sich auch Schulpolitik den individuellen Problemen an den jeweiligen Orten stellen müsse.
Sieben neue erste Klassen
Dass dies tatsächlich geschieht, ist nach Aussagen von Bildungsministerin Hubig nicht zu erwarten. Es könne für Ludwigshafen keine Sonderlösung geben, sagte sie kürzlich bei einem Gespräch mit dem Schulelternbeirat. Das bedeutet, dass eine nach Mächtles Meinung notwendige Besetzung der Klassen mit jeweils zwei Kräften eher nicht vorkommen wird. Froh sei sie aber, dass die „Corona-Aufhol“-Verträge einiger Lehrkräfte weiterlaufen könnten, was eine Erleichterung darstelle. Ebenso wie die Unterstützung durch 18 Studierende der Uni Landau bei der Eingewöhnung der ersten Klassen. Zusammen mit den Wiederholern gibt es im kommenden Jahr 144 Erstklässer, die in sieben Verbände aufgeteilt werden. Wann es das angekündigte Familiengrundschulzentrum im Hemshof geben wird, ist noch offen. Mächtle glaubt nicht daran, dass es nach den Ferien schon soweit sein wird. Dort sollen unter anderem Eltern stärker eingebunden und beraten werden.
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