Hirschberg. Ein Abend der Erinnerung, der Erkenntnis und der stillen Bewunderung: Vor wenigen Tagen verwandelte sich die ehemalige Synagoge in Leutershausen in einen Ort lebendiger Geschichte. Unter dem Titel „Von Hirschberg in die Welt – Spuren jüdischer Nachfahren“ hatte der Synagogen-Arbeitskreis zu einer besonderen Veranstaltung eingeladen, die vier jüdische Persönlichkeiten mit Wurzeln in Hirschberg vorstellte. Rund 60 Gäste waren gekommen, um einen Abend zu erleben, der weit mehr war als eine historische Vortragsreihe.
Zu Beginn begrüßte AK-Vorsitzender Michael Penk die Gäste und dankte dem Pianisten Dietmar Jöst aus Schriesheim, der die musikalische Umrahmung gestaltete. Zugleich wies er auf den 22. Oktober hin – jenen Tag, an dem 1940 fast alle Juden aus Baden und der Pfalz in das französische Internierungslager Gurs deportiert wurden. Auch aus Hirschberg stammten Menschen, die dorthin verschleppt und ermordet wurden. „Wir wollen heute an ihre Nachfahren erinnern“, sagte Penk.
Die Erkenntnisse, die dem Abend zugrunde lagen, beruhten auf den langjährigen Forschungen von Erhard Schnurr und Martina Schulz-Hamann, die sich intensiv mit der jüdischen Geschichte Hirschbergs beschäftigt haben.
Flugzeugpionier Kurt Hermann Weil
Im ersten Vortrag stellte Penk den Flugzeugpionier Kurt Hermann Weil vor, der 1895 in Leutershausen geboren wurde. Der Sohn des jüdischen Religionslehrers Bernhard Weil arbeitete später an der Seite von Hugo Junkers und war an der Entwicklung der legendären Junkers F 13 beteiligt – dem ersten Ganzmetall-Verkehrsflugzeug der Welt. Nach seiner Emigration 1933 wirkte Weil in England und in den USA an der Weiterentwicklung moderner Flugzeuge mit und war nach dem Zweiten Weltkrieg Mitorganisator der Berliner Luftbrücke.
Seine Eltern wurden nach Gurs deportiert; der Vater starb dort, die Mutter konnte fliehen. Mit eindrucksvollen Bildern und Dokumenten erzählte Penk von einem Leben zwischen technischer Brillanz und menschlichem Schicksal – und vom bewegenden Moment, als Weil Jahrzehnte später in Afghanistan das Wrack „seines“ alten Flugzeugs wiederentdeckte, das heute im Deutschen Museum in München steht.
Der Sozaildemokrat Ludwig Marum
Im zweiten Vortrag führte Martina Schulz-Hamann die Zuhörer in das Leben von Ludwig Marum ein, einem der bedeutendsten badischen Sozialdemokraten. Marum, 1882 in Frankenthal geboren, war der Sohn von Helene Mayer aus Leutershausen. Schulz-Hamann zeichnete das Bild eines Mannes, der sich mit ganzer Kraft für Demokratie und soziale Gerechtigkeit einsetzte. Als Rechtsanwalt und Politiker kämpfte Marum gegen Ungleichheit und Antisemitismus, wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verhaftet und im Konzentrationslager Kislau ermordet. Seine Briefe aus der Haft, in denen er schrieb: „Meine Freiheit können sie mir nehmen, aber nicht meine Würde und meinen Stolz“, zeugten von innerer Stärke und unerschütterlicher Haltung. Bei seiner Beerdigung, die die Nazis klein halten wollten, erwiesen ihm 3000 Menschen die letzte Ehre – ein stiller, mutiger Protest. Schulz-Hamanns Vortrag war eindrucksvoll und bewegend, und man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als sie die letzten Zeilen aus Marums Briefen vorlas.
Sir Charles Waldstein, Professor in Cambridge
Anschließend stellte Ilana Bender das Leben von Sir Charles Waldstein, später Walston, vor. Der 1856 in New York geborene Enkel der aus Leutershausen stammenden Familie Schriesheimer war ein international anerkannter Archäologe, Gelehrter und Professor in Cambridge. Als Direktor der „American School of Classical Studies“ in Athen leitete er bedeutende Ausgrabungen, unter anderem in Herculaneum, der verschütteten Schwesterstadt von Pompeji. Er nahm 1896 an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit teil und wurde 1912 von König George V. in den Adelsstand erhoben. Seine Geschichte war eine Reise von der Bergstraße in die Gelehrtenwelt Europas – ein faszinierendes Beispiel dafür, wie weit die Wurzeln einer kleinen Gemeinde reichen können.
Der Bäcker Max Heumann
Den Abschluss bildete Rainer Müller mit dem Vortrag über Max Heumann, geboren 1879 in Birkenau, dessen Mutter Emilie Haarburger aus Leutershausen stammte. Heumann gründete 1907 im elsässischen Soultz-sous-Forêts eine Bäckerei, die sich auf die Herstellung von Matzen spezialisierte – jenem ungesäuerten Brot, das bis heute in der jüdischen Tradition eine zentrale Rolle spielt. Während seines Vortrags ließ Müller kleine Stücke Matze im Publikum herumreichen. Viele Gäste probierten zum ersten Mal dieses einfache, aber bedeutungsvolle Brot, das so viel Geschichte in sich trägt. Müller erzählte, wie die Familie Heumann während der Besatzungszeit im Untergrund überlebte, nach dem Krieg die zerstörte Bäckerei wieder aufbaute und sie zu einem erfolgreichen Unternehmen machte, das bis heute besteht.
Alle Vorträge wurden von historischen Bildern begleitet, die auf eine Leinwand projiziert wurden: vergilbte Dokumente, Familienfotos, Flugzeuge, Grabstätten, Synagogen. Sie gaben den Geschichten Gesichter und machten die Vergangenheit greifbar. Die Musik von Dietmar Jöst verlieh dem Abend eine besondere Stimmung, und als die letzten Töne verklangen und der Applaus abebbte, lag eine spürbare Ruhe im Raum – die Stille des Nachdenkens, des Innehaltens, vielleicht auch der Dankbarkeit. Der Synagogen-Arbeitskreis hatte mit dieser Veranstaltung nicht nur vier faszinierende Lebensgeschichten vorgestellt, sondern zugleich ein Stück Hirschberger Geschichte sichtbar gemacht, das bislang kaum bekannt war. Es war ein Abend, der Geschichte menschlich machte – der zeigte, wie eng Erinnerung und Gegenwart miteinander verwoben sind und wie Menschen aus einer kleinen Gemeinde an der Bergstraße Spuren in der ganzen Welt hinterließen.
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