Heidelberger Frühling

Wie beim Heidelberger Frühling Alfred Schnittkes Musik durchgerockt wird

Der Heidelberger Frühling endete am Wochenende durch ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Finale mit Vilde Frang, dem B’Rock Orchestra und Maxim Emelyanychev

Von 
Stefan M. Dettlinger
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In einer innigen Schumann-Passage vereint: Hilde Frang, ihre Guarneri-Violine von 1734 und Dirigent Maxim Emelyanychev, hier mal weniger aktiv. © Susanne Reichhardt

Ein Tornado ist am Samstagabend durch die Aula der Neuen Universität gerauscht und hat allen Staub, Schmutz und Ballast mitgenommen, die sich nicht nur dort, sondern auch auf einer Musikrichtung namens Klassik wie Mehltau abgesetzt hatten. Den Menschen, die den Tornado erlebt haben, stehen nun die zerzausten Haare zu Berge. Sie stehen vor der Frage: War das ein Klassikkonzert? Nichts ist mehr, wie es war. Nehmen wir die Fuge aus Alfred Schnittkes Suite im alten Stil. Am Cembalo steht, nein, explodiert der Dirigent. Maxim Emelyanychev. Mit allen Körperteilen scheint er zu dirigieren. Kopf. Haar. Füße. Ellbogen. Der gesamte Rumpf mit allen in ihm wohnenden Organen scheint zu pulsieren. Und zu all dem, spielt er, als sei er der hart rockende Keyboarder John Lord von Deep Purple, im Stehen diese komplexe polyphone Musik und wuchtet allerlei Verzierungen, Akkorde und Oktavläufe in die fragile Tastatur. Auswendig!

Heidelberger Frühling: Intendant zieht positive Bilanz

Mit einem fulminanten Konzert des B’Rock Orchestra und Stargeigerin Vilde Frang ist am Wochenende das größte Klassikfestival des Landes, der Heidelberger Frühling, zu Ende gegangen. Nach insgesamt vier Wochen und 83 Konzerten an 25 Spielorten zeigte sich Intendant Thorsten Schmidt zufrieden. Sehr viele Veranstaltungen seien ausverkauft gewesen, sagte er im Gespräch mit der Redaktion, zudem sei er glücklich darüber, dass viele junge Menschen in die Konzerte gekommen seien. Der Schlagzeuger Martin Grubinger erhielt den Festival-Musikpreis. Erstmals spielte das neu gegründete Festivalcampus-Ensemble aus Nachwuchssolisten in 13 kostenlosen Stadtteil-Konzerten. dms

Die Interpretation hält, was der Interpretenname verspricht. Dieses Ensemble hört auf den Namen B’Rock, und es scheint aller Musik im Imperativ zuzurufen: Be Rock! Sei Rock! Nicht nur Schnittke groovt jedenfalls wie ein gut geölter Zwölfzylinder. Die Agogik ist scharf, der Rhythmus pointiert, die Dynamik wie eine Hochgebirgslandschaft mit tiefen Tälern und schneebedeckten Gipfeln. Auch die anderen Werke des Abends tun es gehörig - teils vielleicht etwas übertrieben, doch dazu später.

„Das beste Publikum der Welt“

Denn vorher tritt selbstverständlich der Intendant auf. Thorsten Schmidt. Diesmal spricht er allein. Sein neuer Sozius Igor Levit ist anderweitig beschäftigt. Kein Wunder: Der Mann ist Pianist! Also spricht Schmidt: „Sie sind das beste Publikum der Welt!“ Klar, der Satz wurde (auch von Schmidt) schon oft gesagt. Das tut seinem Wahrheitsgehalt aber keinen Abbruch. Er stimmt. Jetzt und hier. Und anderswo. Aber was Schmidt sagen will, ist vielleicht etwas Anderes: Trotz aller Widrigkeiten mit Wetter, Kälte und Stadthallensanierung kommt, zahlt, sponsert das Publikum und hört dann auch noch hochkonzentriert zu - gerade letzteres ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr.

Leider. 83 Konzerte an 25 Spielorten gingen so über die Bühne, davon 13 in Stadtteilen bei freiem Eintritt. Mit dem neu initiierten Festivalcampus-Ensemble. Schmidt erzählt auch stolz davon, dass neulich einer von der nationalen Presse da war und dem Frühling bescheinigt hat, es sei vielleicht nicht das größte, wohl aber eines der großartigsten Festivals. Ja: Der nationalen Presse ist fast so sehr zu gauben wie der regionalen.

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Glauben muss man aber auch ihr: Vilde Frang. Wenn sie Schumanns Violinkonzert d-Moll spielt, hat das zwar nichts mit dem zu tun, was die B’Rocker und Emelyanychev tun, vielmehr aber mit dem, was man höchste Klangkultur nennt. Allein ihre Intonation ist eine Sensation. Spielt derzeit irgendwer sauberer Geige? Selbst Terzentriller geraten dieser 36-jährigen Violinistin, als hätte ihre Guarneri-Geige Bünde auf dem Griffbrett. Faszinierend. Wie Frang aus Schumanns sperrigem ersten Satz (In kräftigem, nicht zu schnellem Tempo), der quasi keine echten Melodien und Themen hat, dennoch ein organisches Stück Romantik macht, ist nicht so sehr ihrer stupenden Virtuosität zu verdanken als vielmehr der Beseeltheit ihres Tones, die mit vollem Ernst auch in die vielen Skalen, Arpeggien und Doppelgriffen diffundiert. Bewegend.

Interessant ist auch, wie sich die unterschiedlichen Spielweisen ergänzen. Hier die alten Instrumente mit einer überdimensioniert aufbrausenden Barockpauke und dem fast vibratolosen Spiel des Ensembles. Dort Frangs stete Suche nach einem glühenden Geigen-Belcanto, das freilich Vibrato braucht - mehr noch in den Folgesätzen, in denen wenigstens Schumann auch mehr Ansätze zu Liebreiz und Schwelgerei anbietet. Dass Frang auch anders, eckiger und ekliger kann, zeigt sie in der Zugabe, Bjarne Brustads offenbar mit Mikrotonalität experimentierendem „Veslefrikk“ (Kleiner Freund?). Ein irrer Tanz ist das mit einigen Kämpfen, Berührungen und Reibungen - das Publikum tobt ob dieser moderat modern klingenden Musik.

Frischzellenkur für Haydn

Stand am Anfang das motorisch und minimalistisch in Pattern vor sich hin wütende „Green DNK“ des 1970 geborenen Pavel Karmanov, so beschließt ein Klassiker den Heidelberger Frühling: Haydns Sinfonie Nr. 103 („Paukenwirbel“), die von den B’Rockern eine Frischzellenkur verpasst bekommt. Die Neue Aula ist aus dem Häuschen. Der Frühling ist vorbei. Es lebe der Frühling: Ab 14. Juni führt das Liedfestival fast in den Sommer. Jetzt müssen wir aber erst mal die Verwüstungen an der Konvention reparieren, die der Tornado hinterlassen hat. Aber vielleicht wollen wir das auch gar nicht mehr …

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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