Die Neue Musik ist tot! Es lebe der Wohlklang! Freilich geht es hier um jene Neue Musik, die mit großem N geschrieben wird und sich auf den Begriff des Musikjournalisten Paul Bekker bezieht und in Theodor W. Adornos Philosophie mündet. Nach ihr muss sich die Avantgarde gänzlich dem kommerzialisierten Musikbetrieb entziehen, indem sie sich aller ästhetischen Konvention verweigert - anhand eines Kanons des Verbotenen: verbrauchte Klänge, Techniken und Formen, die Komponisten nicht mehr zur Verfügung stehen. Letzte Exemplare dieser Art führen noch Überlebenskämpfe auf Expertenfestivals. Meist ist man unter sich.
Global betrachtet war die Neue Musik schon immer tot. Der totalitäre Fortschritts- und Erkenntnisglaube Schönbergs, Adornos oder Pierre Boulez’ wurde aus Fernost wie -west mit Be- oder Verwunderung, mitunter auch Skepsis wahrgenommen. Und viele, vor allem seit den 1970er Jahren, sahen den Avantgarde-Dogmatismus ohnehin als Sackgasse der Musikgeschichte. Nur logisch, dass solche Musik selten auf Klassikfestivals auftaucht. Sie ist und bleibt des Bürgertums Schreckgespenst.
Mit Feinheit und Finesse
Und so klingt nun auch das 2. Klavierkonzert des 1938 geborenen Amerikaners William Bolcom erst mal wie eine schöne neue Welt. Geschrieben hat Bolcom es für den Pianisten Igor Levit im Auftrag des Heidelberger Frühling. Und Levit selbst hat es gerade dort uraufgeführt. Allein an den punktgenauen Schlussdetonationen des 1. und 3. Satzes („Legend“ und „Complainte“) kann man hören, wie gut er mit Dirigentin Elim Chan und dem Mahler Chamber Orchestra harmoniert. Chan gehört ohnehin zu den Akribikerinnen. Nicht nur Bolcom, auch Igor Strawinsky und Aaron Copland dirigiert sie mit der Feinheit und Finesse einer Augenoperateurin, bisweilen scheint sie minimalinvasiv ins Orchester vorzudringen.
Bolcoms 30-Minüter verstößt zu hundert Prozent gegen Adornos Kanon. Er benutzt im Grunde nur bereits existierendes ergo „verbrauchtes“ Material, selbst Dur, Moll, Harfenparfum und Anleihen aus Pop, Jazz und Ragtime sind darunter. Wen stört’s! Entscheidend ist, dass ihm eine unter dem Strich spannende Welterzählung gelingt, die mit katastrophischen, apokalyptischen Ausbrüchen, virtuosen Kapriolen, verzweifelten Klangpsychogrammen, dann wieder heiteren, tänzerischen oder lyrischen Passagen vor allem im 2. und 4. Satz mächtigen Ahnungsdrang entwickelt. Hier schmiegt sich Levits kantabler, teils wie Jazzimprovisation sprechender Klavierpart fast versöhnlich an den Orchesterklang. Es ist selten ein klassisches Konzertieren, mehr ein Arbeiten an einer gemeinsamen Sache, einer wie auch immer gearteten Dialektik aus Spannung und Entspannung, aus schön und hässlich, konsonant und dissonant. Ist es das, was Adorno kommerziell nannte?
Nein, und suspekt muss das heute niemandem mehr sein. Bisweilen ertappt man sich zwar beim Schwelgen. Im Konzert gehört das aber zum Kanon des Erlaubten. Das Publikum ist begeistert.
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