Heidelberg. „Alt Heidelberg, du feine, Du Stadt an Ehren reich...“ dichtete Viktor von Scheffel. Enge Gassen, Touristenidyll, Hochburg der deutschen Romantik, so kennen und lieben wir „die Perle am Neckar“. Doch Heidelberg kann auch anders. Und so weht zur Eröffnung der Tanzbiennale ein harter Berliner Wind durch tradierte Beschaulichkeit. Cooles Off-Szenen-Flair, vielleicht gar ein Hauch New York umweht den bisher besten und heftigsten Aufschlag zu wahrlich großem Tanzkunst-Tennis.
Kein Wunder, hat sich nach einer Corona-Minimalversion 2021 beim Kuratoren-Team aus Holger Schultze, seinem Tanzspartenleiter Iván Perez sowie den Unterwegs-Theater-Protagonisten Bernhard Fauser und Jai Gonzales doch viel überschüssige Energie aufgestaut. Tanz-Allianz nennen sie diesen Energiegewinnungszusammenschluss, der den Korken zu Beginn heftig knallend aus der Sektflasche treibt. Keine Reden, Publikum in Bewegung bringen, kurze Stücke, gute Leute, junge Ansätze, so sieht er aus der Wiedererweckungsansatz unter dem Festivalmotto „Dance Breaking free!“
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Es wummert der Techno
Dafür ist das irische Bewegungswunder Oona Doherty genau die richtig Initialzünderin. Im stylish kahlen Autohaus gegenüber, rauscht sie im tiefergelegten Golf GTI samt Ballonseidenmacker (im Kofferraum) die Auffahrt hoch, in die volatile Publikumsmasse. Techno wummert aus den Fenstern, der Sound ist rau, der Umgangston in babylonischem Kauderwelsch sämtlicher europäischer Sprachen ebenso. Er behandelt sie nicht gut, bleibt wortlos, cool wie seine Goldkette, mit verschränkten Armen auf der Motorhaube sitzen. Doherty kämpft an, gegen die Behandlung, die Ausweglosigkeit dieser „Beziehung“ mit pfeilschnellen Kicks, Bodenstürzen, Vorwürfen. Dann rauscht er die Rampe hinunter, sie rennt verzweifelt hinterher, das Publikum auch - Ortswechsel.
Das Präludium ist zu Ende, vom Autohaus geht es in die Industrie-Hebel-Halle, über Straße und Hinterhof: „hope hunt and the ascension into Lazarus“ (Hoffnungsjagd und der Aufstieg zu Lazarus) heißt ihr Solo, das in Figurenwechseln mit mehr physischen als tänzerischen Ansätzen Männlichkeit, Abhängigkeit und Moral hinterfragt. Im Parforceritt jagt sie durch Techno-Klassiker, laut und derb schreit sie „Scheiße“, bricht in ruckelnden Beugungen seitlich aus wie ein wild gewordener Kobold.
Als sie nach einem fast sakralen zweiten Teil, eher liegend zu sich findet, ihre Geschichte erzählt hat, geht sie entspannt zur Brandmauer. „Black“ und tosender Applaus. Beim Festival dürfen wir uns auf eine weitere Arbeit von Oona Doherty freuen: In „Navy Blue“ widmet sie sich am 2. Februar, 20.30 Uhr, mit zwölf Tänzern zu Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 dann dem Thema Depression. Doch zunächst geht es szenisch am Eröffnungsabend nicht minder finster weiter: „la media que no has dividir“ (die Linie, die uns spaltet) aus Spanien. Doch es ist weniger schroff, was Pazó und Lucia Burguete zur Zweisamkeit zusammengetragen haben.
Studie zur Zweisamkeit
Erstaunlich, was das spanische Paar bewegungssprachlich zusammengetragen hat. Wer glaubt, schon alles gesehen zu haben, was Tanz mit menschlichen Körpern anzustellen in der Lage ist, sollte sie sich anschauen. So ästhetisch kann werden, was als „rhythmische Bodengymnastik“ beginnt. Sie kriechen, wippen, zerren, schaukeln. Miteinander, aufeinander, gegeneinander - auf den Millimeter synchron und seelentief. Die Trennungslinie, die das Individuum vom Paar trennt, wird am Ende zum schlichten Kreidestrich. Bis dahin zeigen uns die beiden eine Paargeschichte, die zur Evolutionsgeschichte humaner Zweisamkeit wurde. Finster, aber groß und berührend ist das.
Heute bei der Tanzbiennale Heidelberg
- 17 Uhr, Alter Saal, Vortrag mit Film „Unboxing“, Ping Heng (künstlerische Leiterin des Dance Forum Taipei) und Channel Hung: „Dance in Taiwan“.
- 19 Uhr, Heiliggeistkirche, Otra Danza/Asun Noales und Susana Guerro: „Rito“.
- 20.30 Uhr, Marguerre Saal, die Koproduktion der beiden bedeutendsten Tanztheater Spaniens, Teatros del Canal, Madrid, und Mercat de les Flors aus Barcelonazeigen unter Jésus Rubio Gamo: Ravels „Gran Bolero“.
- Darüber hinaus zeigt das Festival der TanzAllianz Heidelberg aus Stadttheater und Unterwegstheater noch bis 5. Februar in zehn Tagen an sieben Spielorten insgesamt 26 Produktionen mit 100 Tänzerinnen und Tänzern.
- Karten: theaterheidelberg.de, an der Theaterkasse (Theaterstraße 10), tickets@theater.heidelberg.de oder 06221/5820 000.
Das gilt auch für die frühabendlichen „Freischwinger“ im Alten Saal, als die 13 junge Heidelberger Laientänzerin im gekonnten Einsatz sind. Unter einem riesigen Mobile zeigen die Absolventinnen des Workshops, was sie mit Gaëlle Morello und Wiebke Hofmann zum Thema Verbundenheit und Individualität entwickelt haben. „Dance Breaking free!“ ist somit ein gelungenes Motto. Auch für einen quirligen abendlichen Ausklang mit Techno und Jazz.
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