Heidelberg/Schriesheim. Kein Job mehr, kein Geld für die Miete, die Wohnung gekündigt und nirgendwo ein bezahlbares Mietangebot in Sicht - der Weg in die Obdachlosigkeit kann sehr kurz sein. Auch für Frauen. „Das geht schnell“, sagt Nadine Frühauf. Die Sozialarbeiterin betreut im Talhof in Schriesheim Menschen, die wohnungslos sind. Und sie bekommt auch immer mehr Anfragen von Frauen. Längst nicht jede kann aufgenommen werden, es gibt eine Warteliste.
Zwischen 20 und 83 Jahren sind die 13 Bewohnerinnen alt, die neben 112 Männern aktuell in den zwei Einrichtungen der Wiedereingliederung der Evangelischen Stadtmission in Schriesheim und Heidelberg begleitet werden. „Wir haben es mit allen Schichten zu tun“, geht Frühauf die Sozialstruktur ein: „Von der Akademikerin bis zu Menschen, die keinerlei Schulabschluss haben.“ Wenn Frühauf über die Frauen spricht, die sie begleitet, nennt sie sie sehr respektvoll „Damen“. Das findet man hier nicht außergewöhnlich: „Wir sind auf Augenhöhe miteinander und Vertrauen ist generell die Basis unserer Arbeit“, unterstreicht Heidi Farrenkopf, Geschäftsführerin der Wiedereingliederungshilfe der Evangelischen Stadtmission Heidelberg gGmbH.
Beim Filmfestival gesammelt
Am Dienstag haben die Damen des Talhofs Besuch von gut einem Dutzend Vertreterinnen der acht Zonta-Clubs in der Region bekommen. Monika Mölders-Felgenhauer, Präsidentin des Zonta-Clubs Heidelberg, und ihre Kolleginnen bringen einen Scheck in Höhe von 6500 Euro mit. Das Geld ist beim Festival des Deutschen Films 2023 zusammengekommen: „Seit 2010 haben wir jedes Jahres eine Filmvorführung für uns Zonta-Clubs allein“, erzählt Mölders-Felgenhauer. Auf die Eintrittskarte werden 10,50 Euro draufgeschlagen - und dieser Aufpreis wandert direkt und ohne Abzüge in einen Spendentopf. Reihum entscheiden die einzelnen Clubs, wer mit der jeweils gesammelten Spende bedacht werden soll. „Diesmal waren wir Heidelbergerinnen an der Reihe und haben uns für die Unterstützung der Frauen im Talhof entschieden“, fügt die Club-Präsidentin hinzu. Es ist nicht das erste Mal, dass die Heidelbergerinnen hier helfen.
Farrenkopf ist sehr dankbar für die Spende. Sieben Pflegeheime in Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis sowie zwei Krankenhäuser in Heidelberg (Salem und St. Vincentius) unterhält die Evangelische Stadtmission - und eben die beiden Einrichtungen der Wiedereingliederung. Das Geld werde dringend benötigt und ist nicht an ein spezielles Projekt gebunden. „Das ist wunderbar so, das gibt uns die Möglichkeit, ganz individuell und kurzfristig zu helfen“, erklärt Frühauf. Neulich sei eine Frau hergekommen, die keine Schuhe hatte. „Da konnte ich unbürokratisch schnell welche kaufen, damit sie nicht mit nackten Füßen herumlaufen musste“, nennt sie ein Beispiel.
Oft Suchtkrankheit im Spiel
Oft steckt eine Suchtkrankheit hinter der Wohnungslosigkeit. Einige Frauen seien aber auch stark traumatisiert, die meisten haben Gewalt in der Familie oder in der Partnerschaft erlebt, häufig auch sexualisierte Gewalt. „In der Regel überweisen psychiatrische Kliniken sie an uns“, gibt Frühauf einen Einblick in ihren Arbeitsalltag. Im Talhof bekämen die Frauen nicht nur ein Dach über den Kopf, sondern auch enge und individuelle Begleitung, um bald wieder mit den Füßen auf möglichst soliden Boden zu kommen.
„Die Damen kommen in der Regel mit nichts: Sie haben weder Papiere noch eine Krankenversicherung“, geht die stellvertretende Leiterin der Talhof-Wiedereingliederung auf eine für sie alltägliche Situationen ein. „Dann stehen für uns die Gesundheitsfürsorge und die Anmeldung bei einer Krankenkasse erst einmal ganz oben auf der Liste.“ Danach kommen Ausweisanträge und viele andere bürokratische Themen auf die Agenda.

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Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gibt es in Deutschland mindestens 59 000 wohnungslose Frauen. Das Statistische Bundesamt hat Anfang 2022 erstmals eine Zahl untergebrachter Wohnungsloser veröffentlicht: Von 178 000 Personen seien 37 Prozent Frauen gewesen - also etwas mehr als ein Drittel. Das Sozialforschungsinstitut statista geht sogar von 185 000 Frauen ohne Wohnung (2022) aus - gegenüber 274 000 Männern. In Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sind laut Statistischem Bundesamt mit jeweils etwa 36 000 die meisten Menschen ohne Wohnung gezählt worden (Männer und Frauen).
Aber: Auch in den Zahlen des Statistik-Bundesamts fehlen jene Menschen, die bei Bekannten oder Familie unterschlüpfen und solche, die komplett auf der Straße leben, ohne jemals Unterstützung in einer sozialen Einrichtung zu suchen. Und das betrifft besonders Frauen, weiß Frühauf: Sie schaffen es meist, eine ganze Weile zu überbrücken, bevor sie die Obdachlosigkeit nicht mehr abwenden können. Und Frauen harren auch sehr lange in schwierigen Situationen, auch in von Gewalt geprägten Beziehungen, aus. „Ich kenne einige Frauen, die über Jahre hinweg viel ertragen müssen.“ Und so bringe „jede Frau ihr ganz spezielles Paket mit“ - meistens gleich mehrere auf einmal.
Leben auf der Straße ist für Frauen gefährlich
So wie Martha. So nennen wir die 36-Jährige, mit der wir uns über ihr neues und ihr früheres Leben sprechen dürfen. Die Mutter früh verstorben, ein Vater nicht präsent, keine Familienbande, die sie hätten auffangen können. Die Jugendliche wird von einer Einrichtung zur nächsten gereicht, hält es nie lange aus und lebt ohne Schulabschluss dreieinhalb Jahre auf der Straße. Immer rastlos, immer auf dem Sprung. „Wenn ich heute durch Heidelberg laufe, sehe ich Frauen, die in der gleichen Situation sind wie ich damals“, erzählt sie. Und gleichzeitig sieht Martha bei solchen Gelegenheiten die Ecken und Orte, an denen sie selbst lange gelebt hat. An denen sie besonders nachts hoffte, dass ihr niemand etwas tut. Das Leben auf der Straße sei einfach für Frauen besonders gefährlich.
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Ihre Tante sei es gewesen, die die junge Frau eines Tages zum Talhof brachte. „Am Anfang war es sehr hart hier, ich musste wirklich kämpfen“, beschreibt die 36-Jährige den Neustart ihres Lebens im Talhof. Mehr als zwölf Jahre liegt das nun zurück. „Es war das Beste, was mir im Leben passiert ist“, weiß Martha heute. In der Wiedereingliederungshilfe habe sie Unterstützung gefunden, um „ihren Weg zu gehen“.
Sie holt die Schule nach, erkämpft sich eine Ausbildung zur Schreinerin. Mit der Unterstützung von Zonta wird es ihr ermöglicht. Die junge Frau lebt heute in einer Wohnung. Sie verdient ihr eigenes Geld. Der Talhof bleibt ein Teil ihres Lebens, als ehrenamtliche Unterstützerin kam sie zurück nach Schriesheim.
„Den Kopf in den Sand zu stecken, bringt nichts“, sagt die Frau mit den Sommersprossen auf der Nase. „Hier gibt es Leute, die einem raushelfen können, hier kann man den Absprung schaffen - aber man muss die Hilfe auch annehmen.“
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