Heidelberg. Vorsichtig schiebt Jenny dem Mitarbeiter einer Werkstatt das Stäbchen in die Nase und dreht den dünnen Stiel einige Male herum. Als sie das Teil wieder heraus zieht, folgt ein lautstarkes Niesen. Seit drei Wochen hat Jenny das Handwerk an Dutzenden Menschen nahezu perfektioniert. Der blaue Kittel, den sie zum Schutz trägt, ist Pflicht. Auch am vergangenen Freitag streift sie einen solchen wieder mehrmals über.
In Heidelberg bleibt vieles anders. Das fängt bei der außergewöhnlich ausgeprägten Debattenkultur im Gemeinderat an und hört im vorliegenden Fall beim Bordellbetrieb auf. Bienenstock heißt das Geschäft in der Eppelheimer Straße, in dem Jenny eigentlich einem anderen Gewerbe nachgeht. Wie sie das findet, fremden Menschen in der Nase herumzustochern? „Ich habe schon Schlimmeres gesehen“, sagt sie und kann ein Lachen dabei nicht unterdrücken. Seit mehr als einem Jahr läuft im Laufhaus nichts mehr wie vorher. Die Zimmer, in die sich bis zu 30 Frauen im Alter zwischen 21 und 67 Jahren normalerweise zu einem Tagessatz einmieten, sind verwaist. Kalle S., 59-jähriger Betreiber des Bordells, rechnet nicht damit, dass die Damen ihrem Job so schnell wieder nachgehen werden. Seinen Nachnamen möchte er öffentlich nicht nennen, zum Schutz seiner drei kleinen Kinder. Als Bordellbetreiber werde man noch zu oft in eine kriminelle Ecke gestellt.
Eher pragmatisch und gar nicht kriminell ist hingegen der Gedanke, ungenutzten Raum zum Corona-Testzentrum umzufunktionieren. Viel Verkehr ist hier aber nicht – und das in jeder Beziehung. Das garantiert allerdings auch sehr kurze Wartezeiten. Rund 20 Personen kommen im Durchschnitt tagsüber hier vorbei. Besagten blauen Kittel streift sich Jenny ehrenamtlich über. Ihre eigentliche Kundschaft darf sie nicht empfangen. Kai Behrens (26) verantwortet das Geschehen. 18 Euro pro getesteter Person bekomme er von der Kassenärztlichen Vereinigung, wie er sagt. Reich werde er davon nicht, aber die Kooperation mit dem Bordellbetreiber klappe gut.
Dass es vorwiegend auch Frauen mit Kindern sind, die sich hier testen lassen, hätte er zunächst nicht erwartet. Die Idee eines Testzentrums kam ihm vor wenigen Wochen, als das nebenan gelegene Bauhaus nur mit negativem Test betreten werden durfte. In Heidelberg gab es zu diesem Zeitpunkt noch weniger Testzentren. Inzwischen sind es 27 Orte in der Stadt – mit einer Testkapazität von insgesamt 10 000 am Tag.
Wer beim Testen im „Bienenstock“ nun tiefe Einblicke in das Innenleben eines Bordells erwartet, wird allerdings enttäuscht: Keine pinken Plüschsofas, kein gedimmtes Rotlicht. Einmal Nase ins Fenster halten – das war es dann. Ohnedies unterscheidet sich das Laufhaus in der Eppelheimer Straße von einschlägigen Bauten etwa auf St. Pauli oder in der Mannheimer Neckarstadt. Boulevard-Medien titelten im typischen Jargon im Jahr 2015 über das Bordell „Weltpremiere: Heidelbergs neuer Öko-Puff“.
Passivhaus-Standard
Betreiber Kalle S. erklärt, dass diese Schlagzeile auf die Tatsache zurückgeht, dass man im Zuge des Neubaus im Gewerbegebiet die Energiestandards der Bahnstadt umgesetzt habe. Das Bordell erfüllt die Maßstäbe eines Passivhauses. Strom- und Wärmeversorgung kämen zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien durch das Holz-Heizkraftwerk der Heidelberger Stadtwerke. Beim Gang durch das Gebäude, das irgendwie tatsächlich an die Waben eines Bienenstocks erinnert, zeigt Kalle S. die Räume, an denen die Namen der Frauen stehen, die hier üblicherweise die Wünsche von Freiern erfüllen. Stolz ist er auf die große Küche und den Gemeinschaftsraum, wo die Prostituierten in normalen Zeiten gemeinsam zu Mittag äßen. Er wehrt sich gegen das verruchte Bild, das noch immer von Bordells gezeichnet werde. Von der Frage der Versteuerung bis zur Frage der Hygiene halte man sich im „Bienenstock“ an alle Gesetze. Das werde regelmäßig überprüft.
Wann man hier wieder zum normalen Betrieb übergeht, ist unklar. „Wir werden das einklagen müssen“, vermutet Kalle S. In den geltenden Allgemeinverfügungen stehe dazu trotz niedriger Inzidenzen in Heidelberg bisher nichts. So muss er auch weiter auf die Corona-Hilfen der Bundesregierung vertrauen. Auch die Prostituierte Jenny will nun einen Antrag auf Neustarthilfe für Solo-Selbständige stellen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg_artikel,-heidelberg-heidelberg-prostituierte-bieten-ehrenamtlich-corona-tests-an-_arid,1797687.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/heidelberg.html