Heidelberg. Es sieht aus wie eine Modelleisenbahnlandschaft: In einem etwa einen Quadratmeter großen offenen Holzkasten sind auf der einer Seite Schienen verlegt, Gebäude aufgestellt und graue Streifen aufgeklebt, die mit gestrichelter Mittellinie eine Straße darstellen. Auf der anderen Seite stehen fingerlange Bäume beisammen, die einen Wald darstellen. Grüne, gelbe und braune Flächen aus samtartigem Papier füllen die Mitte. Doch hier geht es nicht um Hobby oder Spiel, sondern um eine ernste Angelegenheit. „Während der Wald weitgehend unantastbar ist, wachsen Straßen und bebaute Flächen - auf Kosten der landwirtschaftlichen Flächen dazwischen“, erklärt Rolf Berger, Kreisgeschäftsführer des Kreisbauernverbandes Rhein-Neckar und Karlsruhe, das Modell.
Volksantrag
- Während ein Volksbegehren sich gegen ein Gesetz richtet oder die Änderung der Verfassung beziehungsweise die Auflösung des Landtags anstrebt, kann ein Volksantrag zu jedem Thema der politischen Willensbildung gestellt werden.
- Mindestens 0,5 Prozent der Wahlberechtigten müssen unterschreiben.
- Link zum Volksantrag gegen den Flächenfraß: www.laendle-leben-lassen.de. miro
An einem der heißesten Tage des Jahres stehen er und seine Mitstreiter in der Heidelberger Hauptstraße einen Nachmittag lang an einem Infostand zum Thema Flächenfraß. Mit dabei sind Stein Wanvik vom Deutschen Alpenverein Heidelberg, Wolfgang Guckert und Volker Kaltschmitt, der Vorsitzende und sein Stellvertreter vom Kreisbauernverband Rhein-Neckar, sowie Christine Kranz vom Naturschutzbund, die die Aktion in der Region federführend organisiert. Unermüdlich erklären sie den Passanten, die stehen bleiben, die Problematik und sammeln Unterschriften. 40 000 Unterstützer werden landesweite Initiative „Ländle leben lassen“, an der sich insgesamt 24 Umwelt- und Naturschutzverbände beteiligen, benötigt. Das Ziel: die Politik mittels eines Volksantrags zu verpflichten, endlich verbindliche Obergrenzen für den Neuverbrauch an Flächen im Gesetz zu verankern. Die Landesregierung habe zwar in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, den Flächenverbrauch kurzfristig auf 2,5 Hektar pro Tag und bis 2035 auf Netto-Null zu reduzieren, erklärt Christiane Kranz, Geschäftsführerin des Bezirksverbands Nabu (Naturschutzbund Deutschland) mit Sitz in Leimen.
Sechs Hektar täglich
Doch noch immer würden täglich im Schnitt fünf bis sechs Hektar unbebauter Natur in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt - zuletzt sogar mit steigender Tendenz. Der tägliche Flächenverbrauch lag nach Angaben des Statistischen Landesamtes in Baden-Württemberg im Jahr 2021 bei 6,2 Hektar pro Tag. Im Jahr zuvor waren es noch 5,4 Hektar gewesen, die pro Tag in Baden-Württemberg bebaut wurden. Zum Vergleich: das entspricht etwa acht Fußballfeldern.
Nach Nabu-Angaben sind mittlerweile insgesamt 14,8 Prozent des Landes Baden-Württemberg mit Häusern, Parkplätzen oder Straßen bedeckt. Der Bund gibt vor, den Flächenverbrauch in Deutschland bis zum Jahr 2030 von aktuell 54 Hektar am Tag auf unter 30 Hektar zu verringern. Das hatte das Bundeskabinett bereits 2016 in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt. Langfristig strebt die Bundesregierung sogar das Flächenverbrauchsziel „Netto-Null“ an.
Doch was bedeutet „Netto-Null“? Da erwarten selbst diejenigen noch „Konkretisierung“, die die Flächenverteilung in der Metropolregion Rhein-Neckar ganz praktisch in Karten einzeichnen: Der Regionalverband zum Beispiel. „Da müssen wir erstmal abwarten, wie der Begriff ,Netto Null’ ganz konkret ausgestaltet wird. Da brauchen wir noch Hinweise“, sagte etwa Ralph Schlusche, Direktor des Verbandes Region Rhein-Neckar (VRRN), in einem Gespräch mit dieser Redaktion im Januar. Der im Dezember 2022 vorgestellte neue Regionalplan, der sich derzeit in der zweiten Offenlage befindet, wird vermutlich Ende des Jahres 600 Hektar neue Flächen ausweisen, die als Wohn- oder Gewerbegebiete genutzt werden können.
Auch Radwege knabbern Fläche
Sogar die eigentlich ja ökologisch sinnvolle Mobilitätswende fordert ihre Flächen, verweist Kranz auf das geplante Netz an breiten Radschnellwegen, die für Ökosysteme und Tierwelt trennende Schneisen bilden. „Die zurückliegenden zwei Generationen haben in 50 Jahren so viel neue Siedlungsfläche in Anspruch genommen wie 80 Generationen zuvor“, rechnet Stein Wanvik vom Deutschen Alpenverein vor. „Wir opfern Wiesen, Wälder und Felder für ausgedehnte Betonwüsten anstatt bestehenden Siedlungsflächen neues Leben einzuhauchen“, kritisiert Guckert.
Ein Jahr haben die Umweltschützer nun Zeit, die 40 000 Unterschriften zusammenzubekommen. Die Hälfte sei schon geschafft, gibt Kranz einen Zwischenstand. Er macht die Umwelt- und Landwirt-Verbände zuversichtlich, bereits im Herbst die Aktion „Ländle Leben lassen“ erfolgreich abschließen zu können. Start war im Januar gewesen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Ressourcen Flächenfraß in der Region: Jedes neue Baugebiet hinterfragen