Heidelberg. Ein ganzes Haus voller Coaches und Therapeutinnen: In der Heidelberger Altstadt gibt es seit Kurzem dieses noch sehr seltene Modell, das sicher Zukunft hat. Wir haben die ungewöhnliche „Arbeitsgemeinschaft“ in der Märzgasse 14 besucht. In der „Systemischen Werkstatt“ bieten mehr als ein Dutzend Therapeuten Einzel-, Paar-, Familien- und Sexualberatung an.
Eine hölzerne Wendeltreppe, die an das Innere eines Schneckenhauses erinnert, führt in den gemütlichen ersten und zweiten Stock des alten Hauses. Es ist komplett renoviert und modern eingerichtet. Als die Heidelbergerin Julia Vettermann das leerstehende Haus entdeckte, wusste sie sofort: „Das ist es“, erzählt sie.
Als Paar- und Beziehungsberaterin war sie auf der Suche nach neuen Räumen für ihre Kundengespräche. Zunächst mietete sie eine der beiden angebotenen Wohnungen im Haus und suchte nach Kolleginnen. „Das Interesse war so groß, dass ich bald das ganze Haus mietete“, erzählt die Gründerin. Seit sechs Jahren arbeitet sie als systemischer Coach in Heidelberg, zuvor hatte sie stundenweise ein Yogastudio in Handschuhsheim gemietet und dort gearbeitet.
Beziehungsführerschein mit „TÜV“
Zusammen eine Adresse zu haben und doch selbstständig zu arbeiten hat für die Ausübung freier Beratungsberufe viele Vorteile, erzählen Kathrin Roch, Andrea Crone und Andrea Koch: Die Raum-Kosten bleiben überschaubar - und man ist nicht allein, kann jederzeit auf das Netzwerk und die Gemeinschaft zurückgreifen. Jede Mieterin hat einen Vertrag gewählt, der zu den von ihr gewünschten Arbeitszeiten passt.
Und so arbeiten aktuell 13 Frauen in acht Zimmern. Es kommen bald noch zwei Männer dazu: Zum 1. Dezember zieht der Psychologe und Traumatherapeut Sebastian Kernbach ein. Zwölf Jahre hat er in der Tagesklinik Blankenburg der Psychiatrischen Uniklinik gearbeitet. Zum 1. Januar kommen Heilpraktiker Florian Kraft, mit Schwerpunkt Burn Out, und die Heilpraktikerin für Psychotherapie Sabine Hannak hinzu.
„Ich wollte mehr Team um mich herumhaben“, begründet Crone, dass sie dabei ist. Nach Praxis sieht hier übrigens nichts aus: Wir sitzen in einer gemütlich eingerichteten Küche mit Bar-Tisch, die den Mittelpunkt der ungewöhnlichen WG bildet. „Meine Kinder gehen um die Ecke in die Schule“, beschreibt Roch einen weiteren Standortvorteil der „Systemischen Werkstatt“ mitten in der Altstadt.
Die Diplom-Psychologin und zertifizierte Systemische Therapeutin (SG) bietet Unterstützung und Beratung für Familien mit Kindern und Jugendlichen. Seit Corona, das wissen alle vier Fachfrauen, ist der Bedarf an psychologischer Unterstützung stark gewachsen, besonders bei Kindern und Jugendlichen. „Bei uns muss man nicht lange auf einen Termin warten. Wir haben auf der Homepage einen Notfall-Button und reagieren innerhalb von 24 Stunden auf Anfragen“, verspricht Vettermann. Im kostenlosen, zwanzigminütigen Kennenlerngespräch prüfen die Therapeutinnen auch, ob vielleicht sogar ein psychiatrischer Notfall vorliegt und vermitteln dann an geeignete Praxen oder Kliniken weiter.
Vettermann bietet in ihrer Paarberatung unter anderem einen „Beziehungsführerschein“ an. Das ist ein Kurzprogramm von drei mal zwei Stunden, das sie erarbeitet hat, um Paare zur Beziehungs- und Kommunikationspflege anzuregen. „Das kann man auch gut als Start in eine Beziehung machen, damit es gar nicht erst zur Entfremdung und Distanz kommt“, erklärt Vettermann. „Ich biete den Paaren auch jedes Jahr eine Auffrischung („TÜV“) an, an die ich sie erinnere.“
Vielfältige Methoden und Schwerpunkte in der "Systemischen Werkstatt" in Heidelberg
Von Gestalttherapie über Hypnose und psychologische Beratung bei ADHS oder Begleitung von Diabetes-Erkrankten reicht die breite Palette der Methoden und Spezialisierungen. „Die meisten von uns waren an der IGST (Internationale Gesellschaft für Systemische Therapie) und dem Helm Stierlin Institut in Heidelberg“, sagt Vettermann. „Hier sitzt auch die geistige Schule der Systemischen Therapie in Deutschland, die sogenannte Heidelberger Schule.“
Mit ihr seien Namen wie Helm Stierlin, Gunthard Weber, Fritz B. Simon, Gunther Schmidt verbunden. Sie und andere haben diese Therapieschule in den 1980ern aus den USA mitgebracht und in Heidelberg weiterentwickelt. Crone ist ausgebildete psychologische Beraterin und Diabetes-Coach. Selbst vor 42 Jahren an Diabetes erkrankt, weiß sie genau, dass chronische Krankheiten neben den medizinischen auch psychische Komponenten hat. „Viele an Diabetes Erkrankte haben das Gefühl, nicht mehr vollwertig zu sein, bekommen auch Depressionen.“ Die Volkswirtin hat sich vor ein paar Jahren aus ihrem alten Job verabschiedet, die neue Ausbildung begonnen und wollte „schon immer“ Menschen beraten.
Abgerechnet wird indes nicht gemeinsam, sondern jede Therapeutin der „Werkstatt“ stellt ihren Klienten selbst eine Rechnung. In der Regel muss privat bezahlt werden, mehrere „WG“-Mitglieder haben die Prüfung als Heilpraktikerin für Psychotherapie und damit Heilerlaubnis. Sie können mit privaten Krankenkassen abrechnen.
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