Bürstadt. Was später entsteht, weiß Meike Ehrhardt oft nicht, wenn sie ihre „Tanzstunde“ vorbereitet. Das liegt an ihren besonderen Teilnehmern, die immer wieder für eine Überraschung gut sind. Zwei Gruppen - eine jüngere und eine ältere - treffen sich seit einem Jahr jeden Mittwoch zum Tanztheater im KamÜ in Bürstadt. Darunter sind autistische und hochsensible Kinder, welche mit Down-Syndrom oder Epilepsie. Die meisten bringen mentale oder körperliche Einschränkungen mit, aber alle bewegen sich zur Musik und sind dabei ganz bei sich.
Was genau ihre Kinder in dieser Stunde machen, wissen die Eltern gar nicht so richtig, verraten sie beim Abholen. Sie sehen, dass es ihnen gut tut. Das ist schon sehr viel. „Meine Tochter tanzt so gerne“, erzählt eine Mutter. „Aber in anderen Gruppen muss sie dafür Schritte und Abfolgen lernen. Den Druck hat sie hier nicht. Sie kann sich frei bewegen, das ist wunderbar.“ Die Familie wohnt in Bürstadt und hat es nicht weit. Andere kommen aus Lorsch, Bensheim und Bobenheim-Roxheim. „Solche Räume, um sich zu entfalten, gibt es immer weniger - auch dass Kinder so akzeptiert werden, wie sie sind“, sagt eine andere Mama.
Individuelle Angebote mit Bewegung
Meike Ehrhardt, Jahrgang 1983, aus Lampertheim ist ausgebildete Sporttherapeutin für Psychatrie und Psychosomatik sowie -motorik. Sie hat sich in inklusiver Zirkuspädagogik weitergebildet und Kurse zur Dance Ability besucht. Dabei handelt es sich um eine Bewegungs- und Tanzmethode, um die eigene Bewegungssprache zu erforschen.
Mit ihrem Projekt Permalights bieten die Therapeuten Meike und Michael Ehrhardt Gruppen- und Einzeltherapie an für Menschen mit unterschiedlichen mentalen und körperlichen Beeinträchtigungen, mit autistischen Zügen, für hochbegabte oder -sensible Personen. Für Hochbegabte will Meike Ehrhardt bald eine neue, eigene Gruppe anbieten, ebenso für Erwachsene. Die Teilnahme ist auch im Rollstuhl möglich.
Das Tanztheater im KamÜ, Industriestraße 11 in Bürstadt, läuft mittwochs von 15.30 bis 16.30 Uhr für Sechs- bis Zwölfjährige. Jugendliche ab zwölf Jahren und junge Erwachsene treffen sich von 16.45 bis 18.15 Uhr. Kontakt: per E-Mail an permalights@web.de oder unter 0151/64 82 47 14.
Jede und jeder einzelne bringt hier sein Päckchen mit - was Schwächen oder Stress betrifft, aber genauso Kreativität und Bewegungsfreude. „Voneinander zu lernen und zu verstehen, dass keiner perfekt ist, halte ich für ganz wichtig“, sagt Meike Ehrhardt. Das gilt für alle, auch für ihre eigenen Kinder, die mitmachen. Sie inspirieren sich gegenseitig. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Tanz eine wunderbare Möglichkeit ist, seine Emotionen zu zeigen und Stress abbaut - was besonders wichtig ist für autistische, hochbegabte oder hochsensible Kinder, die sich im Alltag sehr anpassen müssen.“ Anders als bei Psychotherapie müssen sie beim Tanzen nicht reden.
Wie Roboter bewegen sich die Kinder zum mitreißenden Rhythmus von Alice Mertons Hit „No roots“ durch den Raum. Mal in Zeitlupe, mal vorwärts und rückwärts. „Dass sie eigene Ideen für Bewegungen entwickeln oder sich entspannen können, war zu Beginn, als wir hier angefangen haben, gar nicht möglich“, erinnert sich Meike Ehrhardt. Das hätten die jungen Menschen erst lernen müssen - und diese Erfahrung bald auch genossen.
Wichtig sind in der Gruppe feste Rituale. Der Beginn und das Ende jeder Stunde bleiben gleich. Für die Zeit dazwischen denkt sich die 41-Jährige immer wieder neue Themen aus - oder nimmt Anregungen auf. Den Roboter hat sich die Gruppe der Sechs- bis Zwölfjährigen gewünscht. Ehrhardt kombiniert diesen Bewegungsablauf mit dem eines Gummis, der sich streckt und wieder zusammenzieht. „Manchmal ist es total wichtig, dass man loslassen kann. Wenn einem alles zu viel ist“, sagt sie. Alle nicken. Sie kennen das Gefühl nur zu gut. Stress ist für diese Kinder besonders belastend. Deshalb folgt immer eine Übung zur Entspannung. Zuvor aber endet der Tanz in der Pose eines Superhelds. Das finden alle lustig - und sie fühlen sich zugleich stark dabei. Danach legen sie sich bereitwillig auf den Boden, um sich gegenseitig einen Massageball über den Rücken zu rollen.
Einige haben schon negative Erfahrungen gemacht in anderen Gruppen, weil sie mit ihrer Behinderung oder autistischen Störung auffallen. Den Alltag schütteln die Kinder und Jugendlichen auch an der Tür zum KamÜ nicht ab, sondern erzählen erst einmal, was sie gerade gedanklich bewegt. Jeder kommt zu Wort, danach erklingt Musik, die zum Tanzen einlädt. Zu „No roots“ können sie erst einmal alles abschütteln, vor allem die Anspannung. Aber auch nachdenkliche Texte spielt Meike Ehrhardt ab, die die Kinder berühren. „Du wurdest dieser Welt gesandt, um deine Kräfte zu entfalten“, spricht Patrick Kammerer alias Seom und ermutigt: „Trau dem Kompass deines Herzes“.
Nicht alle Stunden laufen so, wie sich Meike Ehrhardt das wünscht. Aber das ist in Ordnung für sie. Sich auf die Teilnehmer und ihre Stimmungen einzulassen, sei ganz wichtig, um sie nicht zu überfordern. Die Fortschritte sprechen für sich.
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