Kirche und Gesellschaft

Krieg, Klima, Kirche: Warum der Speyerer Bischof von einem Epochenwechsel spricht

Erleben wir gerade das Ende des Nachkriegsdeutschland? Bischof Karl-Heinz Wiesemann hat sich zuletzt einer Demo angeschlossen. Im Interview zeichnet er historische Linien nach und benennt eigene Fehler. Hat die Kirche Zukunft?

Von 
Stephan Alfter
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„Der Frage nach dem Weiheamt für Frauen muss mit Nachdruck in der Weltkirche nachgegangen werden“: Dieser Ansicht ist der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann. © Klaus Venus

Speyer. Herr Bischof Wiesemann, wie zufrieden waren Sie, als hier vor ihrem Dom und Ihrem Bischofssitz jüngst rund 5000 Menschen für Vielfalt und Toleranz demonstriert haben?

Bischof Wiesemann: Ich war selbst unter den Demonstrierenden vorne mit dabei. Mir war das wichtig, dass gerade vor dem Dom eine solche Menge zusammengekommen ist. Das war ein sehr ermutigendes Zeichen. Es ging hier ja nicht um eine einseitige politische Demonstration, sondern um Grundfragen unseres Zusammenlebens - der Frage nach Recht, Freiheit, nach demokratischer Ordnung und einer offenen Gesellschaft. Das ist uns in unserem christlichen Welt- und Menschenbild ein wesentliches Anliegen. Die Menschenwürde kommt allen in gleicher Weise zu. An den Demonstrierenden konnte man sehen, dass das quer durch die Gesellschaft ein Anliegen ist. Da waren alle Altersstufen und gesellschaftlichen Schichten vertreten.

Sie haben zuletzt öffentlich davon gesprochen, dass wir auf der Erde einen Epochenwechsel erleben. Können Sie präzisieren, was Sie damit genau meinen?

Wiesemann: Wir sind als Menschen auch außerhalb Deutschlands sehr stark geprägt durch die Erfahrung der beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert. Das große Versöhnungsprojekt Europa ist daraus entstanden, das sehr stark auch von christlichen Politikern mitgeprägt wurde. Die großen internationalen Institutionen wie die UN, die sich auch um grundlegende Themen wie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung gekümmert haben, geraten aber unter Druck. Das Bewusstsein, dass man aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gemeinsam die richtigen Schlüsse zieht, verschiebt sich zugunsten einer Einengung auf das Nationalistische, Abschottende und Identitäre. Das Grundgefühl meiner Generation „Nie wieder Krieg“ hat keine Selbstverständlichkeit mehr. Den Epochenwechsel sehe ich darin, dass die großen Ideen aus den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr in gleicher Weise tragen. Es gibt keine größeren Herausforderungen mehr, die nur auf eine Region beschränkt bleiben. Die Klimaproblematik ist dafür das beste Beispiel.

Karl-Heinz Wiesemann

  • Karl-Heinz Wiesemann, 1960 geboren, wuchs als drittes von vier Kindern in Ostwestfalen auf. Er studierte in den Jahren 1979 bis 1986 Katholische Theologie und Philosophie in Paderborn und Rom
  • Am 19. Dezember 2007 ernannte ihn Papst Benedikt XVI. als Nachfolger von Anton Schlembach zum Bischof von Speyer. Er wurde am 2. März 2008 ins Amt eingeführt
  • Ende 2020 nannte er den Namen eines hochrangigen Geistlichen im Bistum Speyer, der sich in den 60er Jahren des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hatte. 

Epochal sind auch die Austritte bei der katholischen Kirche. Weit mehr als eine Million sind in den vergangenen drei Jahren gegangen. Hat sich die Kirche zu wenig Gehör verschafft, wenn es um den Kampf gegen Extremismus geht? Und wo war ihre Stimme für die Menschen, die unter Armut leiden?

Wiesemann: Wir haben es nicht geschafft, nah genug bei den Menschen zu sein - mit ihren Fragen und ihren Nöten. Andererseits haben wir als Bistum zum Beispiel mit dem Ansteigen der Inflation über die Caritas die Aktion Winterhilfe ins Leben gerufen. Das Geld ist gar nicht in der Weise abgerufen worden, wie wir es zur Verfügung gestellt haben. Es ist für uns als Kirche deutlich schwieriger geworden, mit unseren Informationen präsent zu sein. Wir versuchen es unter anderem auch mit digitaler Kirche, um auf verschiedenen Kanälen nah zu sein. Einerseits ist uns der traditionelle Gottesdienst vor Ort wichtig. Gleichzeitig wissen wir, dass wir unsere Kräfte vermehrt auch in neue Formate stecken müssen. Uns betrifft aber natürlich insgesamt auch der Vertrauensverlust in die Institution Kirche.

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Ist die Kirche zu sehr mit sich selbst beschäftigt - bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen? Sie haben vor fast genau drei Jahren erstmals den Namen eines Täters aus Ihren eigenen Reihen genannt - Prälat Motzenbäcker.

Wiesemann: Ich glaube, die Aufarbeitung des Missbrauchsthemas wirft uns in der Tat erstmal auf uns selbst zurück. Wir haben da sehr viel Kräfte investiert - in die Aufarbeitung geschehenen Unrechts und Aufdeckung systemischer Ursachen, in Präventionsprogramme und Schutzkonzepte. Das sind notwendige Prozesse. Die Arbeit mit dem Betroffenenbeirat und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission nimmt zwar viel Zeit in Anspruch, ist aber sehr wichtig und fruchtbar.

Nun wurde die große Studie seitens der evangelischen Kirche vorgestellt, die sexuellen Missbrauch dort thematisiert. Wie überrascht sind Sie von den Ergebnissen?

Wiesemann: Es hat mich nicht überrascht. Es gibt dort aber andere Problemzonen, wo man genau hinschauen muss.

Welche sind das?

Wiesemann: Zum Beispiel das evangelische Pfarrhaus, das eine ganz andere Situation darstellt als das zölibatäre Pfarrhaus. Ich will nicht generalisieren, es ist aber auch nicht meine Sache, das jetzt zu analysieren. Insgesamt glaube ich, dass es in der gesamten Gesellschaft ein sehr großes Dunkelfeld gibt.

Bedeutendster Ort der Region: der Speyerer Dom. © K. Landry/ Bistum

Wenn wir bei der katholischen Kirche bleiben, hat man den Eindruck, dass es dort eine Kirche der verschiedenen Geschwindigkeiten gibt. Zum Beispiel auch zwischen Rom und dem, was Sie hier tun. Die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ist in der Weltkirche mehr als umstritten. Das wird ja von Land zu Land anders gehandhabt.

Wiesemann: Papst Franziskus möchte, dass wir als katholische Kirche einerseits die große Einheit und Gemeinsamkeit pflegen, aber darin auch unterschiedliche kulturelle Verwirklichungen leben und zulassen. Das hat es ja in der Weltkirche immer schon gegeben.

Aber in einer Zeit der großen Verwerfungen, in der fast alles auf dem Prüfstand steht, erscheint das doch als immer schwierigeres Unterfangen - diese Einheit in der Unterschiedlichkeit. Deshalb haben wir ja diese gesellschaftlichen Debatten um die AfD.

Wiesemann: Der Dialog muss ehrlich und offen innerhalb der Kirche geführt werden. Da müssen wir hier aufpassen, denn wir sind nicht die Belehrer der Weltkirche mit unseren Vorschlägen. In Südamerika und in Afrika denkt man dann schnell an eine Art Neokolonialismus. Dort will man aber eine eigene Sicht bewahren. Ich halte auch einen deutschen Sonderweg für unsinnig. Es geht eher darum, die Schwierigkeit und Komplexität von solchen Situationen miteinander auszuhalten. Aber es bedeutet auch, den eigenen Standpunkt in diesen Dialog mit Beharrlichkeit und Demut einzubringen. Wir haben sehr unterschiedliche Reaktionen in der Weltkirche zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare - in Afrika, aber auch in Weißrussland zum Beispiel. Dort wird man solche Segnungen nicht durchführen.

Sie haben die Frage hundertfach gehört: Wann dürfen Frauen endlich Priesterin werden?

Wiesemann: Zunächst einmal ist die Frage nach dem Diakonat der Frau offen und von Rom nicht endgültig beantwortet. Mit dem Synodalen Weg setze ich mich dafür ein, dass der Frage nach dem Zugang der Frau zu Weiheämtern mit Nachdruck in der Weltkirche nachgegangen werden muss. Was sich gerade sehr verändert, ist die Präsenz von Frauen in Leitungsaufgaben der Kirche. Es gibt deutlich mehr - auch auf der römischen Ebene.

Also erleben wir in diesem Jahrhundert noch Frauen in Priesterämtern.

Wiesemann: Da orakele ich nicht.

Braucht die katholische Kirche ein Drittes Vatikanisches Konzil ?

Wiesemann: Dazu müsste man den Gedanken eines Konzils neu konkretisieren und wie das für die heutige Zeit aussehen kann. Das kann man nur auf einem synodalen Weg, wie wir ihn eingeschlagen haben. Ich glaube, dass Papst Franziskus auch in diese Richtung denkt. Wenn die großen Fragen anstehen, dann glaube ich persönlich, dass es ein Konzil braucht. Noch ist es zu früh.

Wir erleben einen globalen Wechsel der Epochen

Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich im vergangenen Jahr in einer Fastenpredigt im Dom sehr für die Ökumene stark gemacht, die ja 1962 Gegenstand des letzten Konzils war. Salopp gefragt: Ist es nicht an der Zeit, dass Protestanten und Katholiken mehr als 500 Jahre nach ihrer Trennung den Laden wieder zusammen- legen, ehe beide zu Minderheitsrepräsentanzen werden?

Wiesemann: Das, was wir als christliche Kirchen gemeinsam tun können, müssen wir auch gemeinsam tun. Da sind wir schon sehr weit zwischen Landeskirchen und Bistümern. Zum Beispiel in der Krankenhaus- und Notfallseelsorge. Da geht nichts ohne ökumenische Absprachen. Wir sind in ganz vielen Bereichen - vor allem im Kern der christlichen Botschaft - schon wirklich eins. Aber es gibt gewachsene Strukturen, die man nicht einfach zerstört. Die jeweiligen spirituellen Reichtümer werden nicht besser, indem man sie auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner vereinheitlicht. Die Vielfalt darf nicht verloren gehen, daher ist das Zusammenwerfen keine Lösung. Wir sind aber bei vielen Dingen schon bedeutsame Schritte weiter.

„Schritte weiter“ ist das beste Stichwort für die letzte Frage: Sie sind 63 Jahre alt. Wie lange wollen Sie Bischof von Speyer sein?

Wiesemann: Ich kann über einen Einschnitt vor drei Jahren offen sprechen: Es ist mir damals so gegangen, dass ich mich in einer psychosomatischen Klinik und anschließend in einem Kloster neu orientieren und zu Kräften kommen musste. Es war nicht nur der Missbrauch, sondern auch dieser Epochenwechsel, der mich neu hat nachdenken lassen. Inzwischen geht es mir wieder gut. Ich übe mein Amt gerne aus und stelle mich zusammen mit meinen Mitarbeitern und vielen engagierten Gläubigen diesem Epochenwechsel. Gleichwohl beschäftigt mich die Frage, ob bei den Herausforderungen, denen das Bischofsamt heute ausgesetzt ist, Bischöfe bis zum 75. Lebensjahr im Amt bleiben sollen.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar

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