Bensheim. "Grauer Beton, rauer Jargon“ - der Deutschrapper Trettmann singt diese Zeilen nur. Hier aber sind sie Wirklichkeit. Die Sonne brennt schon heiß auf den Asphalt an diesem Mittag am Berliner Ring in Bensheim. Unter den großen, weißen Planen der kleinen Zeltstadt für Geflüchtete erhitzt sich die stickige Luft an diesem Morgen schneller als in den Tagen zuvor. Es wird Sommer an einem der traurigsten Orte der Republik.
Zeltstadt in Bensheim Symbol für Asyldebatte
Viel ist gesendet, gesprochen und geschrieben worden in den vergangenen Monaten über diesen großen Platz am Rande der A5, der so symbolhaft für alle Fragen rund um die Migrations- und Asyldebatte in Europa steht. Würde hier jemand empirische Sozialforschung betreiben, er könnte vermutlich viele Probleme des Planeten sehr gut beschreiben. Im südhessischen Kreis Bergstraße interessieren sich die Bewohner aber vor allem für Fragen, die sie selbst betreffen: Wohin mit den vielen Geflüchteten?

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Wie integrieren wir sie, so dass sie uns nicht auf der Tasche liegen? Welche Chancen können wir Migranten bieten, sich ein friedliches, selbstbestimmtes Leben aufzubauen? Wie können wir verhindern, dass Gewalttaten einzelner drogenabhängiger, traumatisierter junger Männer unsere Gesellschaft weiter spalten? „Das Boot ist voll“, heißt es im Populisten-Jargon an Stammtischen, was in diesem Kontext besonders zynisch klingt.
Matthias Schimpf war bei Markus Lanz
Schon aufgrund seines Jobs muss sich der Kreisbeigeordnete Matthias Schimpf intensiver als andere mit diesen Aufgaben beschäftigen. Jeden zweiten Tag kommt er nach Bensheim, schnappt sich einen Kaffeebecher und plaudert über die Probleme, während ihm die Augen der hier gestrandeten Menschen „SOS“ entgegenfunken. Hat sich etwas verändert, seit wir im Februar hier waren? Das ist die Frage.
Einer der rund 560 Geflüchteten, die hier weiterhin leben, schraubt an diesem Morgen an einigen kollabierten Waschmaschinen herum. Die Geräte gingen schnell kaputt, weil sie von den ungeduldigen Händen der hier hausenden Menschen öfter während des Vollwaschgangs aufgerissen würden, weiß Schimpf. Auch aufgrund der Berichterstattung dieser Redaktion war der Grünen-Politiker zuletzt hin und wieder am späten Abend im TV zu sehen. Gesprochen hat er etwa bei Markus Lanz über - bleiben wir mal im Waschmaschinen-Jargon - den ausgedehnten Schleudergang, den seine Verwaltung gerade erlebt. Wöchentlich landen mehr Menschen aus den Problemgebieten rund um Europa in Schimpfs Kreis, als dieser bisher integrieren kann.
Das Geld schafft mir keine Flächen und kein Personal. Unser Thema muss doch eigentlich sein, dass wir relativ zügig weniger Menschen zugewiesen bekommen!
Rund 800 Menschen lebten im Februar in der Zeltstadt in Bensheim. Über dem Limit sei man, hatte Landrat Christian Engelhardt (CDU) sinngemäß gesagt und damit Angela Merkels apodiktischer Aussage „Wir schaffen das“ aus dem Jahr 2015 deutlich widersprochen. Weil andere Kreise das ähnlich ausdrückten, folgte ein Flüchtlingsgipfel mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und ein Bund-Länder-Treffen im Mai mit dem Ergebnis, dass der Bund den Kommunen eine weitere Milliarde Euro überweist. Schimpf regte sich öffentlich auf: „Das Geld schafft mir keine Flächen und kein Personal. Unser Thema muss doch eigentlich sein, dass wir relativ zügig weniger Menschen zugewiesen bekommen!“
Panik vor Geflüchteten
Diese Woche ist die Situation in der Zeltstadt selbst etwas entspannter als noch im Februar. Das hat auch mit einem Umdenken beim Kreis selbst zu tun. Seit 1. Mai weist man die meisten Menschen, die eine Bleiberechtsperspektive haben, den einzelnen Kommunen zu. Vorher setzte man auf eine zentrale Unterbringung. Im Gorxheimertal leben also jetzt auch Geflüchtete. Schimpf erinnert sich an eine Bürgerdiskussion dort. Um 30 Menschen sei es gegangen. Wo sollen die denn hin? Es gebe keinen Platz für die Leute, habe ein besorgter Bürger geäußert. Die Antwort des dortigen Bürgermeisters Uwe Spitzer sei gewesen: „Sie sind bereits seit vier Wochen da.“
Und trotzdem: Die Menschen - das ist an vielen Orten in der Region spürbar - sie haben eine diffuse Panik vor zuviel weiterer krisenhafter Veränderung und vor Fremden. In Speyer sollen Geflüchteten-Container in der Nähe des Oberkämmerers, einer Villen-Siedlung unweit von drei Gymnasien, aufgestellt worden.
Initiative gegen Container für Geflüchtete
Prompt gründete sich eine Initiative, die das verhindern will. Die Morde eines traumatisierten Somaliers in Oggersheim im Herbst 2022 fallen in entsprechenden Diskussionen recht schnell. Die Gewaltverbrechen oft psychisch kranker Migranten seien keine Einzelfälle, heißt es dann. Und man stelle sich nur die Mädchen mit den kurzen Röcken vor, wenn die Geflüchteten vor den Schulen stünden. All das sind Sätze, die in der Domstadt in abendlichen Runden derzeit regelmäßig fallen. Die Umfragewerte der AfD wachsen bundesweit wöchentlich.
In Bensheim hat sich die Unterbringung der Geflüchteten in der Zeltstadt im Frühjahr 2022 aus Sicht der Polizei als unproblematisch erwiesen. Die bisherige Bilanz neben zwei kurzzeitig ausufernden Konflikten unter den Geflüchteten selbst: quasi keine Vorkommnisse im Zusammenhang mit Straftaten in Bensheim selbst. Einmal pro Woche unterhalten sich die Beamten mit der Kreisverwaltung. So wie es derzeit aussieht, wird es diesen „Jour fixe“ auch noch im kommenden Jahr geben, denn Matthias Schimpf geht nicht davon aus, dass die Zeltstadt im Herbst schließen kann. Im Gegenteil: Es droht ein weiterer Winter unter Extrembedingungen.
17 Abschiebungen in einem Jahr
Tatsächliche Integrationsarbeit findet aber weiterhin nicht statt - auch kein Sprachtraining oder anderweitige sinnvolle Formen der Begegnung. Die rühmliche Ausnahme bildet das Familienzentrum Bensheim, Geschäftsführerin und Diplom-Sozialpädagogin Katharina Naegele berichtet von ein bis zwei Dutzend Frauen aus Syrien, Afghanistan und anderen so genannten Drittstaaten. Zum Kaffee habe man sie eingeladen und sich per Google-Translator ausgetauscht, was gut funktioniert habe.
Ansonsten organisierte man kleine Basare oder sammelte gezielt Spenden in Form von Kinderwagen, Klamotten oder Malstiften. Nun seien die Frauen auf besagte Kommunen verteilt worden und der Kontakt abgerissen. Naegele will nun Verbindung zu neu angekommenen Frauen herstellen, um mit vier oder fünf ehrenamtlichen Kräften wenigstens zu zeigen, dass es jenseits der Zeltstadt auch ganz normale Menschen gibt, die auch mal zuhören, ohne dabei Akten anzulegen.
Zuhören deshalb, weil einige der Frauen auch enttäuscht sind über das, was sie hier vorfinden. Vom gelobten Land Deutschland bleibt in der harten Realität oft nicht mehr viel übrig. Hinzu kommt: Wer nicht aus Syrien oder Afghanistan kommt, hat ohnehin keine guten Aussichten auf ein dauerhaftes Bleiberecht. Allein: Im vergangenen Jahr fanden im Kreis Bergstraße lediglich 54 Rückführungen statt, darunter 17 Abschiebungen. Die Regel ist der Status einer vorübergehenden Duldung, der das Dilemma der europäischen Migrationspolitik beschreibt. Grauer Beton, rauer Jargon...
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