Frankenthal. Als Kerstin Sauer an einem Morgen vor 35 Jahren aufwachte, war plötzlich alles anders. Die Welt um sie herum war über Nacht dunkel geworden. Seit Jahren wusste sie, dass dieser Moment kommen, und sie erblinden würde. Doch als es so weit war, traf Kerstin Sauer der Schmerz über ihre Erblindung mit voller Wucht. „Dieses Verlustereignis gehört sicher zu den schlimmsten meines Lebens“, sagt die heute 60-Jährige in einem Café in der Frankenthaler Innenstadt, in dem sie von ihrem Leben als blinde Staatsanwältin erzählt - und den Hürden, die sie bis heute nehmen muss.
Der Grund für ihre Erblindung: die Augenerkrankung „Retinitis Pigmentosa“. Dabei sterben die Sehzellen in der Netzhaut des Auges schleichend ab, Betroffene erblinden schrittweise.
„Warum jetzt? Warum ich? Und warum so?“, fragte sich Kerstin Sauer nach der Erblindung. Da war sie gerade 25 Jahre alt, studierte Jura und jobbte als Hilfswissenschaftlerin. Trotz ihrer Trauer über den Verlust der Sehkraft ging sie schon bald in die Analyse. Sie fragte sich, wie es ihr gelingen könnte, ihr Leben neu aufzustellen. Noch als Sehende hatte sich Sauer mit der Punktschrift vertraut gemacht, - um sich bestmöglich vorzubereiten. Was folgte, sei dennoch ein „steter Kampf“ für bessere Rahmenbedingungen gewesen, die es ihr ermöglichten, das erste und das zweite Staatsexamen abzulegen, um dann Staatsanwältin zu werden. Das war vor über zwei Jahrzehnten.
Vollzeitassistenz und Hilfsmittelsoftware
„Heute ist es etwas besser geworden“, sagt Sauer. „Als nicht-sehender Referendar darf man inzwischen Prüfungsarbeiten mit dem Computer schreiben.“ Mitte der 1990er Jahre musste Sauer sich noch dafür verkämpfen, dass eine Assistenzkraft sie zu den Klausuren begleiten durfte. „Blinde beziehungsweise hochgradig sehbehinderte Menschen, die gut ausgebildet sind, waren und sind Paradiesvögel - unter allen Schwerbehinderten machen wir nur gut zwei Prozent aus“, sagt Sauer, die seit über 20 Jahren bei der Frankenthaler Staatsanwaltschaft arbeitet. Davor war sie Staatsanwältin in Niedersachsen, die Liebe führte sie nach Frankenthal.
Rund 600 Fälle bearbeitet Sauer inzwischen im Jahr. „Nach 30 Jahren in dem Job habe ich erstmals eine Pensum-Reduzierung beantragt“, sagt sie. In ihrem ersten vollen Jahr als Staatsanwältin in Hannover bearbeitete Kerstin Sauer 1600 Fälle. „Vor allem Jugendverfahren, da geht es meist schneller, aber ja, 1600 Fälle waren es.“
Wie schafft sie das? Kerstin Sauer, die nur noch Hell-Dunkel-Schattierungen erkennen kann, arbeitet mit Hilfe einer Vollzeitassistenz, die sie bei der Bewältigung des Berufsalltags unterstützt und bestimmte Aufgaben für sie übernimmt - zum Beispiel liest sie für Sauer die Anklage in Verfahren vor.
Über eine Hilfsmittelsoftware kann sich Kerstin Sauer außerdem Schriftsätze in Punktschrift anzeigen lassen. Und: Die 60-Jährige hat ein ausgeprägtes Gedächtnis. Wer sie im Gerichtssaal erlebt, vergisst schnell, dass sie nicht sehen kann. Ihr Plädoyer hält sie frei und ebenso frei zitiert sie aus Gesetzestexten. „Die Angeklagten merken schnell, dass sie mich nicht austricksen können“, sagt Sauer.
In der Regel spielt ihre fehlende Sehkraft im Gerichtssaal keine Rolle. Über den Tonfall, die Lautstärke, die Satzmelodie ließen sich viele Dinge heraushören, sagt die Staatsanwältin. An einen Fall kann sich die 60-Jährige dann doch erinnern, in dem ihr die visuelle Wahrnehmung gefehlt hat. „Es ging um einen Streit zwischen JVA-Gefangenen. Die Blicke, die in diesem Verfahren ausgetauscht wurden, hätte ich gerne gesehen.“ Doch an diesem Tag sprang sie für einen Kollegen ein und wurde deshalb nicht von ihrer Assistentin begleitet, die normalerweise Auffälliges für sie beschreibt.
„Die richtige Assistenz zu finden, ist immens wichtig - das ist die Achillesferse“, sagt Kerstin Sauer. In Zeiten, in denen überall der Personalmangel grassiere, gestalte sich die Suche nach jemandem, mit dem man gut harmoniere, oft schwierig. Ohnehin offenbare unser System erhebliche Schwächen, weiß sie. „In Sonntagsreden ist Inklusion ein großes Thema, im Alltag nicht“, sagt Sauer. Ein Beispiel: die Einführung der E-Akte. Gerade werden in Frankenthal alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Verwaltungsorganisation der Justizbehörde zu digitalisieren. „Allerdings wurden Menschen wie ich wieder einmal nicht mitgedacht“, sagt Sauer, die nicht abschätzen kann, wann oder wie sie künftig überhaupt mit dem neuen, nicht barrierefreien System arbeiten kann.
„Ich werde wieder einmal ausgebremst“
„Ich habe das Recht, mich genauso zu entfalten wie alle anderen Menschen auch, doch ich werde wieder einmal ausgebremst“, sagt Sauer. Und doch sei ihr immer bewusst, dass sie zu der vielleicht privilegiertesten Gruppe von Menschen mit Behinderungen gehört. Deshalb macht sich Kerstin Sauer ehrenamtlich auch für andere stark, etwa im Frankenthaler Beirat für Menschen mit Behinderungen. „Ich möchte Menschen eine Stimme geben, die selbst nicht für sich eintreten können.“
Ihr Lebensmotto laute „Alles wird gut’“. Aber natürlich habe es immer wieder auch schwere Zeiten gegeben, die sie vor allem dank der Unterstützung lieber Menschen gemeistert habe. Zeiten, aus denen sie gestärkt hervorging. Und so wurde Kerstin Sauer schließlich zu der Frau, die sie heute ist: eine Juristin, die für ihren Job brennt, eine Frau, die mit ihrem Mann die Welt bereist und einmal in der Woche in ihrem Sessel sitzt, um sich von einer Studentin Geschichten vorlesen zu lassen, die es nicht als Hörbuch gibt. Gerade liest die junge Frau ihr die „Bernsteinfrau“ vor - eine Familiensaga, die um unerschrockene Frauen kreist, die den Widerständen ihres Lebens trotzen und nicht aufgeben.
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