Interview

Tod einer Schülerin in St. Leon-Rot: Warum wir von Femizid und nicht von Beziehungstat sprechen sollten

Jeden dritten Tag tötet ein Mann in Deutschland seine Ex-Partnerin. Annette Heneka vom Fraueninformationszentrum des Mannheimer Frauenhauses über Tätervorgeschichten, veraltete Rollenbilder und Aufklärungsarbeit

Von 
Stefanie Ball
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Eine Demonstration gegen Femizide im vergangenen Herbst. Anlass war die Tötung einer jungen Frau in Hannover. © dpa/Moritz Frankenberg

Mannheim. Wenn ein Mann seine Freundin oder Ex-Lebensgefährtin tötet, ist das eine Tragödie, aber kein Einzelfall. In Deutschland passiert das an jedem dritten Tag. Annette Heneka fordert, dass die Gesellschaft bei geschlechtsspezifischer Gewalt mehr hinschauen muss. Die Sozialarbeiterin erlebt im Fraueninformationszentrum (FIZ) des Mannheimer Frauenhaus e.V. immer wieder Frauen, die sich aus verhängnisvollen Beziehungen nicht lösen, weil sie fürchten, die Männer könnten ihnen etwas antun.

Vor einer Woche hat ein 18-Jähriger eine gleichaltrige Mitschülerin erstochen. Die beiden waren zeitweise ein Paar. Wie kommt es zu solchen Gewalteruptionen?

Annette Heneka: Die kommen nicht von jetzt auf gleich, eine solche Tat kündigt sich an, sie hat eine Vorgeschichte, in der der Mann gegenüber der Frau schon gewalttätig war.

Tötungsdelikt

Wie gewaltvoll war die Beziehung vor dem Tod einer 18-Jährigen in St. Leon-Rot?

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Wenn es aber eine Vorgeschichte gab - und das war ja auch beim mutmaßlichen Täter von St. Leon-Rot der Fall -, warum reagiert niemand darauf?

Heneka: Eine Risikoeinschätzung zu treffen, ist immer schwierig. Auch für Experten. Die Polizei hat bestimmte Instrumente, die helfen, das Risiko weiterer Übergriffe abzuschätzen. Sie kann auch eine Gefährderansprache durchführen, so wird das Geschehene öffentlich. Die Frauen können gerichtlich ein Annäherungsverbot durchsetzen. Auch das kann helfen. Das eigentliche Problem ist, dass die Gefährlichkeit des Täters häufig unterschätzt wird.

Woran liegt das?

Heneka: Man kann und will sich nicht vorstellen, dass so etwas passiert. Die Täter kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, aber das wollen wir nicht wahrhaben.

Über das FIZ und über Femizide

  • Annette Heneka ist Sozialarbeiterin am Fraueninformationszentrum (FIZ), einer Beratungsstelle des Mannheimer Frauenhaus e.V.
  • Das FIZ berät Frauen in schwierigen Trennungs- und Scheidungssituationen. Es werden auch Frauen begleitet, die Wege aus einer gewalttätigen Beziehung suchen.
  • Das FIZ ist in der Eichendorffstraße (Neckarstadt-Ost), Tel.: 0621-37 97 90, E-Mail: fiz@frauenhaus-fiz.de. (Mehr Kontaktnummern, siehe unten.)
  • Femizide sind keine Kurzschlusshandlung, die Täter planen ihre Taten oft lange im Voraus, vergleichbar mit Amokläufern. In einem Forschungsprojekt werden Akten von Femiziden nach Signalen durchsucht, die auf die Tat hindeuten. Ziel ist, die Prävention zu verbessern.
  • Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Ex-Partner, eine Frau zu töten. 

Für das Phänomen gibt es einen neuen Begriff: Femizid. Warum sollten wir diesen verwenden?

Heneka: Weil Begriffe wie „Ehedrama“ oder „Familientragödie“ solche Fälle verharmlosen. Auch von einer „Beziehungstat“ zu sprechen, wäre falsch. Weil die Schuld dann in der Beziehung gesucht wird, womöglich bei der Frau. Aber darum geht es bei einem Femizid nicht, die Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. Das sind auch keine tragischen Einzelfälle, sondern das ist ein Muster, das sich alle drei Tage in Deutschland wiederholt. Alle drei Tage wird eine Frau wegen ihres Frauseins von einem Mann getötet. Im Übrigen stehen die Frauen auch nicht in allen Fällen mit dem Mann in einer Beziehung, unter den Getöteten sind Töchter, Schwestern, Prostituierte.

Was ist das Motiv?

Heneka: Die Männer wollen die Frauen besitzen, und wenn sie sie nicht mehr besitzen können, töten sie sie. Einer der Hochrisikofaktoren ist deshalb auch eine Trennung. Viele Frauen trauen sich nicht, ihre verhängnisvollen Beziehungen zu beenden. Sie fürchten, dass die Männer sie umbringen.

Hilfe bei sexueller oder häuslicher Gewalt

Egal, ob Sie selbst, Angehörige oder Personen in Ihrem Freundeskreis von häuslicher Gewalt betroffen sind: Es gibt Möglichkeiten für Hilfe. Unter folgenden Telefonnummern und auf folgenden Internetseiten finden Sie Beratung und Unterstützung. 

Bundesweit

Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist eine anonyme und kostenfreie Beratung für Betroffene, Angehörige, Freunde und Fachkräfte.

Opfer-Telefon des Weissen Rings 

Unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion, Staatsangehörigkeit und politischer Überzeugung erhalten Opfer oder Zeugen von Kriminalität bei uns schnelle und direkte Hilfe.

Bundesweit. Kostenfrei. Anonym. Ein Hilfsangebot des WEISSEN RINGS: 7 Tage die Woche von 7 bis 22 Uhr.

Telefon: 116 006

Website: www.weisser-ring.de/hilfe-fuer-opfer/onlineberatung

In der Region

Frauenhaus des Mannheimer Frauenhaus e. V.

Das Frauenhaus bietet Schutz für Frauen und deren Kinder vor Gewalt und Bedrohung in akuten häuslichen Gewaltsituationen. Die Mitarbeiterinnen beraten Betroffene bei der Lösung persönlicher Probleme und der Verarbeitung der Gewalterfahrungen. 

Fraueninformationszentrum des Mannheimer Frauenhaus e. V.

Im Fachinformationszentrum des Mannheimer Frauenhauses werden Frauen zum Wohnungsverweis und Gewaltschutzgesetz nach häuslicher Gewalt, Unterstützung in schwierigen Trennungs- und Scheidungssituationen und bei Stalking beraten.

Frauen- und Kinderschutzhaus Heckertstift des Caritasverband Mannheim e. V.

Hier finden Frauen und deren Kinder Schutz, die sexuelle, körperliche oder seelische Gewalt erlebt haben oder davon bedroht sind, sowie für Frauen, die von einer Zwangsheirat betroffen oder bedroht sind.

  • Telefon: 0621 411068 oder über die kostenlose Hotline 0800 1008121
  • E-Mail: heckertstift@caritas-mannheim.de
  • Website: www.caritas-mannheim.de

Ehe-, Familien- und Lebensberatung Mannheim

Die Familienberatung Mannheim berät bei körperlicher, psychischer, seelischer oder sexualisierter Gewalt. Zudem finden Betroffene hier Hilfe bei Ehe- bzw. Partnerschaftsproblemen oder Familienkonflikten.

Gewaltambulanz am Uniklinikum Heidelberg (Institut für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin)

Opfer von Gewalt können sich hier kostenlos rechtmedizinisch untersuchen lassen. Die Mitarbeiter dort sichern Spuren bei Gewalttaten. Es besteht keine Pflicht, die Täter anzuzeigen. Die Gewaltambulanz ist 24 Stunden erreichbar. 

Weitere Stellen in der Region auf der Seite der Stadt Mannheim.

Sie sagen, die Männer wollen die Frauen „besitzen“, das klingt antiquiert.

Heneka: Aber so sind die Rollenbilder häufig noch - oder wieder. Wir führen Workshops in Mannheimer Berufsschulen durch, „Mächtig verliebt“ lautet der Titel. Es geht darum, welche Rollenbilder die Jugendlichen im Kopf haben, und dann stellen wir fest, dass die sehr tradiert sind. Es geht viel um Äußerlichkeiten, die Jungs gehen ins Fitnessstudio, werden „stark“, und die Mädchen sagen, ach, wenn ich mal Kinder habe, bleibe ich zu Hause und kümmere ich um Kinder und den Haushalt. Das klingt jetzt erst mal harmlos, aber so etwas verfestigt sich später, dann erwarten die Männer, dass sich die Frauen so verhalten.

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Wenn sie das nicht tun, werden sie sanktioniert?

Heneka: Genau! Oder es kommt zu Unterdrückung, Erniedrigung, Gewalt. Solche Workshops, wie wir sie in Mannheimer Berufsschulen durchführen, müssten deshalb einen viel höheren Stellenwert haben. Eigentlich müsste man auch viel früher anfangen, nicht erst in der Berufsschule, Teenie-Freundschaften entstehen ja schon viel früher. Aber dafür bräuchten wir dann auch mehr Geld. Der Staat müsste wesentlich mehr in die Prävention investieren und damit in unsere Arbeit.

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Müsste es nicht auch härtere Strafen geben? Ein Mann, der eine Frau vergewaltigt, kommt im Zweifel nach einem oder zwei Jahren wieder aus dem Gefängnis. Die Frau leidet ein Leben lang.

Heneka: Wir müssen das Thema der geschlechtsspezifischen Gewalt insgesamt stärker adressieren und in die Mitte der Gesellschaft tragen. Polizei, Jugendämter, Gerichte müssen stärker sensibilisiert und geschult werden, und wir müssen es richtig benennen: Femizid.

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