Leben

San Sebastian muss warten - die Reise zweier Freunde durchs Leben

Bernd Loreth und Michael Schreiner packen 1981 ihre Rucksäcke. Sie wollen ins Baskenland, nach San Sebastian. Dieser Sommer soll den Beginn vom Rest ihres Lebens markieren. Sie ahnen nicht, dass die Reise alles verändern wird.

Von 
Agnes Polewka
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© Getty Images/iStockphoto

Dahn, ein Tag im Juni 2022: Michael „Mitsch“ Schreiner schraubt eine Flasche Riesling auf und schenkt den Wein in Bernd Loreths Dubbeglas. Loreth sitzt auf einer Holzbank am Dahner Eyberg, an der „Schönen Aussicht“. Schreiners Blick wandert über die Berge des Wasgaus, den Löffelsberg, den Busenberg, den Napoleonsfelsen. „Ich dachte, ich komme hier nie wieder hoch“, sagt er.

41 Jahre zuvor, Dahn, ein Tag im Juni 1981: Schreiner und Loreth packen ihre Backpacker-Rucksäcke. Sie wollen ins Baskenland trampen. Nach San Sebastian. Vor ihnen liegt der Sommer ihres Lebens.

600 Kilometer legen sie per Anhalter zurück. Mitsch ist 22, sein Freund ein halbes Jahr jünger. Ihre Großväter haben gemeinsam den Dahner Turnverein gegründet. Mitsch und Bernd sind zusammen zur Schule gegangen. Und zur Kommunion. Dann, mit 15, 16, spielen beide in der A-Jugend beim FC Dahn 1913 Fußball. Und finden einander. Kennen sich nicht mehr bloß, sondern werden Freunde, beste Freunde.

In der Region Auvergne-Rhône-Alpes dann die Ernüchterung. Es regnet. Es hört gar nicht mehr auf. Die beiden Freunde entscheiden sich, umzudrehen, nach Hause zu fahren. San Sebastian muss warten. Kurz vor Mühlhausen steigen sie in das Auto eines jungen Franzosen, der am gleichen Tag seinen Führerschein gemacht hat. Ihre Heimreise endet an einem Baum im Elsass.

Schreiners Welt wankt

Bernd Loreth wird aus dem Wagen geschleudert, landet auf seinem Rucksack, den er nicht abgesetzt hat. Sein Brustkorb tut weh, als er aufsteht. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass mehrere seiner Rippen gebrochen sind. Loreth sieht nach seinem Freund. Nach Mitsch, den er schon sein ganzes Leben lang kennt. „Ich bin zu ihm hin und habe gesagt: Wir sagen keinem, was passiert ist, und fahren einfach weiter“, wird er später erzählen. Aber schnell merken beide, dass etwas nicht stimmt. Mitsch hat Wasser in der Lunge. Er spürt seine Beine nicht mehr. Er wird sie nie mehr spüren. Schreiner ist querschnittsgelähmt.

Mitsch Schreiner wird verlegt, er kommt in die Orthopädie nach Heidelberg. Nach dem Sommer wollte er dort eigentlich eine Ausbildung zum Masseur beginnen. Dann sechs Monate Reha. Nach einem halben Jahr ist Schreiner zurück in Dahn. Und schämt sich. Er, der muskulöse Handballer, der Fußballer, sitzt im Rollstuhl. Seine Welt wankt. „Für mich hat sich das wie das Ende meines Lebens angefühlt“, sagt Schreiner 41 Jahre später. Er greift nach dem Picknickkorb auf der Bank an Dahns vielleicht schönstem barrierefreien Aussichtspunkt, den es ohne Mitsch Schreiners Unfall wahrscheinlich so nicht gäbe.

„Ich habe mir nach dem Unfall geschworen: Wenn der Junge irgendwo hin will, dann werde ich ihn zur Not dorthin tragen“, erinnert sich Bernd Loreth an der „Schönen Aussicht“. Und hält Wort. Gemeinsam mit anderen Freunden trägt er Mitsch Schreiner auf den Jungfernsprung hoch, ein 70 Meter hohes Felsmassiv mitten in der Stadt. Ein Video davon hat Loreth auf seinem Smartphone gespeichert. Und ein anderes: Er und Mitsch rutschen einen steilen Hang am Eyberg hinunter. Auf einer Luftmatratze durch den Schnee. „Da hat er noch alles mitgemacht – heute denkt er zu viel“, sagt der 62-Jährige. Mitsch Schreiner winkt lachend ab.

Rückkehr ins Leben

Drei Monate bleibt Schreiner in Dahn, dann kehrt er zurück nach Heidelberg, um sich mit seinem neuen Leben zu arrangieren. Er sucht sich in der Reha-Einrichtung Vorbilder, macht eine Ausbildung zum Industriekaufmann und findet Halt im Sport. Jahrelang spielt er Rollstuhlbasketball. In einer Saison schafft er es zum Topscorer in der Landesliga – eine besondere Leistung für jemanden mit seiner Behinderung. In seinem Heidelberger Zimmer kann man sich am Wochenende kaum bewegen. Denn dann sind die Dahner da. Natürlich auch Bernd Loreth, der inzwischen in Mainz studiert, in einer WG lebt.

„In dieser Zeit hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass das Leben wieder beginnt – auch im Rollstuhl“, sagt Schreiner. Er zieht zu seinen Freunden nach Mainz, holt sein Fachabitur nach, studiert an der FH in Wiesbaden. „Das war eine geile Zeit“, sagt Bernd Loreth und lacht. In Mainz machen sich die Freunde selbstständig, verkaufen Weihnachtsbäume aus Dahn. Das Geschäft boomt.

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Vier Jahre währt die „geile Zeit“. Dann zieht Bernd Loreth an die Bergstraße, nach Hirschberg, heiratet Martina, wird Vater von Max und Anna. Mitsch Schreiner wird Max’ Patenonkel und ein Teil der Familie. Ganz offiziell.

Zur gleichen Zeit beginnt Mitsch Schreiner zu reisen. Im Fernsehen sieht er eine Doku über die USA, am nächsten Tag sitzt er im Reisebüro und bucht seinen Flug. „Ausgerechnet unser Hinterpfälzer, der kein Englisch spricht.“ Bernd Loreth lacht. Schreiner stimmt mit ein. Auf dem Campus der kalifornischen Universität von Berkeley mietet er sich ein Zimmer und bleibt neun Monate. Er bereist Australien und Neuseeland. Länder, die in Sachen Barrierefreiheit ähnlich gut aufgestellt sind wie die USA – und dabei meist weit über europäischen Standards liegen. Später dann auch Südamerika und Asien. 2005 wird er Berater der philippinischen Rollstuhlbasketballer – nach einer Begegnung in Manila, wo Mitsch Schreiner jährlich „überwintert“, um ehrenamtlich in einer Berufsschule mitzuhelfen. 2009 trainiert er die thailändische Nationalmannschaft und holt mit ihr die Goldmedaille bei den Asean Games in Kuala Lumpur. „Wer weiß, ob ich all das als Nicht-Behinderter geschafft hätte“, sagt er.

Mitsch Schreiner gehört inzwischen zu den erfahrensten Reisenden im Rollstuhl deutschlandweit, arbeitet ehrenamtlich in der Verbandsgemeindeverwaltung Dahner Felsenland als Behindertenbeauftragter und hat die barrierefreien Aussichtspunkte in seiner Heimatgemeinde auf den Weg gebracht. 2020 hat er für den Band „Pilgern für alle – von Worms nach Lauterbourg“, der im Pilger-Verlag erschienen ist, 120 Kilometer Wegstrecke, Unterkünfte und Einkehrmöglichkeiten getestet und beschrieben.

Mitsch Schreiner reist meistens alleine. Auf einigen Reisen ist Bernd Loreth dabei. Und plötzlich sind da am Eyberg ganz viele Erinnerungen. Etwa an ihren Ausflug ins Wallis. An die Mittelstation mit dem Lastenaufzug, mit dem beide über die Gipfel schwebten. Die Fußball-WM 1990 in Italien. Brüssel. „Unsere Freundschaft ist anders als 1981“, sagt Mitsch Schreiner. Wenn sie zusammen sind, ergibt sich vieles von selbst. Niemand muss sich mehr erklären. „Freundschaft ist etwas, das man zulassen muss, das wächst“, sagt Loreth. Eine Beziehung, die auch an Schicksalsschlägen wächst. Der 20. April 2006 markiert die dunkelste Stunde in Bernd Loreths Leben. Max, sein Max, stirbt. Bernd Loreth verliert seinen Sohn. Schreiner sein Patenkind. So viel Schmerz. Diesmal ist Mitsch für Bernd da. Wie die beiden es immer tun.

Gemeinsam gewachsen

Ihre Leben sind eng miteinander verwoben, fast schon miteinander verschmolzen. Beide sind stark in Dahn verwurzelt und mit den Dahnern verbunden. Aber auch mit den Menschen an der Bergstraße, in Hirschberg, wo Loreth eine neue Heimat gefunden hat. Und viele Freunde, die inzwischen auch Schreiners Weggefährten sind. Wie so viele Menschen, überall auf der Welt.

„Irgendwann wird einer von uns die Grabrede des anderen halten – das wird schwer“, sagt Loreth und kneift die Lippen zusammen. Aber unvermeidbar. Ein Ehrendienst, ihrem gemeinsamen Leben geschuldet. Den Schicksalsschlägen und den erhebenden Momenten.

Am 19. November 2021 haben beide ihre Reise nach San Sebastian nachgeholt. Nach 40 Jahren. Denn die Stadt im Baskenland konnte nicht länger warten. Auf diese beiden Männer. Und ihre Freundschaft.

Redaktion

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