Berlin. Wolfgang Krüger beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren als Psychologe und Psychotherapeut mit menschlichen Beziehungen. Im Interview mit dieser Redaktion spricht er darüber, warum wir andere Menschen brauchen, wie wir gute Freunde finden und woran man sie erkennt.
Herr Krüger, schon Cicero schrieb: „Ohne Freundschaft ist das Leben nichts.“ Warum brauchen wir Freunde?
Wolfgang Krüger: Freundschaften sind lebenswichtig. Die positiven Auswirkungen von Freundschaften sind schier unerschöpflich. Wer gute Freundschaften hat, lebt 20 Prozent länger – das hat eine australische Langzeitstudie festgestellt. Auch sind unsere Partnerschaften besser, weil sie von großen Ansprüchen entlastet werden. Und wir wissen, dass man Prüfungen leichter bewältigt, weil das Selbstbewusstsein größer ist, wenn man Freunde hat. Freundschaften sind die Basis für das ruhige Lebensglück.
Inwiefern?
Krüger: Im Gegensatz zu Partnerschaften, die mitunter schwierig sein können, weil der Urschleim der Gefühle zutage tritt – Eifersucht oder persönliche Befindlichkeiten –, sind Freundschaften im Normalfall etwas vernünftiger. Freundschaften gehören zu den am meisten unterschätzten Beziehungen. Die Freundschaft ist schon immer die kleine Schwester der Liebe gewesen.
Warum?
Krüger: Uns fasziniert seit jeher die Leidenschaft in einer Paar-Beziehung, die Erotik. Eine tiefe Freundschaft aufzubauen, das, was ich eine Herzensfreundschaft nenne, ist ein sehr viel langsamerer Prozess, weil bei einer Freundschaft immer ein gewisser Abstand gewahrt bleibt. Die Anfänge einer freundschaftlichen Beziehung sind deshalb viel komplizierter als der Beginn einer Liebesbeziehung.
Wolfgang Krüger
Wolfgang Krüger (74) arbeitet seit über 40 Jahren als tiefen-psychologi-scher Psycho-therapeut. Er hat Ratgeber zu verschiedenen Themen menschlichen Zusammen-lebens geschrieben.
In einem seiner Bücher widmet er sich explizit dem Thema Freundschaft: Wolfgang Krüger, Freund-schaft: beginnen, verbessern, gestalten, 184 Seiten, Books on Demand.
Weitere Infos zu seiner Arbeit unter: www.dr-wolfgang-krueger.de
Was passiert in dieser Anfangsphase?
Krüger: Herzensfreundschaften gründen auf den gleichen Vorstellungen. Es geht um den gleichen Humor, um die gleichen Werte, ähnliche Vorstellungen von Nähe und Distanz. Wenn wir beginnen, uns anzufreunden, dann testen wir intuitiv, wie gut wir hier zusammen passen. Wir geben dem anderen Spielmaterial, erzählen persönliche Dinge und gucken, wie unser Gegenüber reagiert. Reagiert es so, dass wir uns wohlfühlen, erzählt es von sich, dann erzählen wir mehr. So kann sich Vertrauen entwickeln, das dauert etwa ein bis zwei Jahre. Und erst dann ist die Freundschaft soweit, dass wir uns einander auch in Krisen zuwenden.
Wie entwickeln sich Freundschaften? Wie verändern sie sich im Laufe des Lebens?
Krüger: Jedes Lebensalter hat eigene Themen, die die Freundschaft prägen. In der mittleren Lebensphase, in der man Karriere macht oder eine Familie gründet, da fallen Freundschaften oft hinten runter. Man hat einfach nicht genügend Zeit. Ab 45 ändert sich das meistens wieder, und dann investieren die Menschen wieder mehr in Freundschaften. Wenn man etwas älter ist, 70 oder älter, spielt die Frage „Wie geht es dir?“ eine viel größere Rolle als in der Generation 40 plus. Generell lässt sich sagen: Im Normalfall werden die Freundschaften im Alter weniger, aber tiefer.
Wie viele Freunde verlieren wir im Laufe unseres Lebens?
Krüger: Das hängt sehr vom Lebensmut und von der Neugier ab. Es gibt aber eine Untersuchung, die besagt, dass innerhalb von sieben Jahren 50 Prozent aller Freundschaften scheitern. Da sind wir alle wie riesige Durchgangsbahnhöfe. Wenn Sie ihre E-Mail-Verteiler von vor sieben Jahren ansehen, dann werden Sie erschrecken, mit wie vielen Menschen Sie guten Kontakt hatten, die nun keine Rolle mehr in ihrem Leben spielen. Die Leute ziehen weg, kriegen Kinder, heiraten, und dann ist die Beziehung weg.
Wie findet man einen guten Freund?
Krüger: Das ist unterschiedlich. Die meisten findet man in Gruppen, in denen man unterwegs ist, in denen man ähnliche Interessen hat, etwa, wenn man zusammen Yoga macht oder Schmetterlinge sammelt. Also meistens in Gruppen, in denen man ein ähnliches Gesprächsthema hat. Man kann Freundschaften natürlich auch im Kollegenkreis knüpfen. Am leichtesten findet man Freundschaften tatsächlich in Gruppen. Um eine solche Gruppe überhaupt zu finden, kann das Internet durchaus hilfreich sein.
Woran erkennt man eine wirklich gute Freundschaft?
Krüger: Um einen guten Freund zu erkennen, reicht es, wenn Sie sich selbst drei Fragen stellen: Wem würden Sie erzählen, dass Ihre Mutter Alkoholikerin war und wie sehr sie das geprägt hat? Wen würden Sie anrufen, nachdem Sie beim Arzt die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen haben? Und wem können Sie erzählen, dass Sie gerade zehn Millionen Euro geerbt haben, ohne Neidgefühle befürchten zu müssen? Es gibt Kernfragen, die uns deutlich spüren lassen, ob wir gute Freunde haben. Ob es Menschen in unserem Leben gibt, die auch für uns da sind, wenn wir mutlos sind. In Krisen- und Belastungszeiten merken wir ganz besonders, wer ein guter Freund ist.
Stärken schwere Momente die Bindung zweier befreundeter Menschen?
Krüger: Gemeinsame Lebensschicksale schweißen zusammen, wenn sie die Betroffenen nicht überfordern und auseinanderbringen. Das Material, das Menschen letztlich ganz eng zusammen rücken lässt, ist ein Lebensschicksal. Dazu gehören Krankheiten, Trennungen, Zeiten, in denen man nicht weiß, wie man die Nacht überstehen soll – und in denen mein Freund für mich da ist. Das sind Bindungen, die man unbedingt im Leben braucht.
Wie hat sich die Pandemie auf Freundschaften ausgewirkt?
Krüger: Die Herzensfreundschaften wurden besser, denn wir haben in Krisen immer den Wunsch, uns anderen Menschen anzuvertrauen. Doch die Alltagsfreundschaften wurden schwieriger. Denn meist besteht der Sinn der Alltagsfreundschaften darin, dass man gemeinsam Sport macht, im Chor singt oder wandert. Da dies in der Pandemie zumindest schwierig war, haben sich die Alltagsfreundschaften ausgedünnt. Momentan pflegen wir sie wieder mehr, überlegen uns aber bei einigen, ob wir sie nicht beenden sollten. Wenn man sich über Jahre kaum sieht, gibt es anschließend stets „Frühjahrsputz“, und man überprüft seine Freundschaften.
Wie kann man eine Freundschaft pflegen und nähren?
Krüger: Eine gute Freundschaft lebt zunächst von Interesse und vom Zuhören. Davon, einfach für einander da zu sein. Aber wir können eigentlich viel mehr machen. Wir können in Freundschaften gelegentlich ungewöhnliche Fragen stellen, auch unbekümmerte Fragen: Bist du glücklich? Wie war es früher in deiner Kindheit? Das hilft uns, einander noch besser kennen zu lernen. In Freundschaften müssen wir gelegentlich kreativ sein, und wir brauchen gemeinsame Erlebnisse. Außerdem ist es wichtig, dass Freundschaften eine soziale Klammer haben, ich feiere grundsätzlich mit 70, 80 Leuten Geburtstag.
Warum ist das so wichtig?
Krüger: Wir brauchen ein soziales Dorf, das besteht aus den Herzensfreundschaften, im Schnitt hat jeder von uns etwa drei davon. Dann gibt es die Alltagsfreundschaften, davon haben Menschen im Schnitt zwölf. Das sind Freundschaften, in denen wir uns zugehörig fühlen, uns wohlfühlen, auch wenn wir nicht alles von uns preisgeben. Und dann brauchen wir noch die Netzwerke, die Nachbarn, den Kollegenkreis. Ich mache deshalb so große Feiern, weil ich die Leute miteinander vernetze, vielleicht ergeben sich neue Freundschaftspaare. Es tut gut, „Freundschaftsstifter“ zu sein.
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