Metropolregion. Herr Winnes, besonders die S-Bahn Rhein-Neckar funktioniert im Gebiet des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar gerade oft nicht. Was ist da kaputt gegangen?
Michael Winnes: Kaputt gegangen ist das richtige Stichwort. Unser Grundproblem, nicht nur in der Kurpfalz, ist eine marode Infrastruktur im Schienenverkehr. Wir ernten jetzt das Ergebnis aus 30 Jahren Bahnreform. Es wurde völlig unzureichend in die Schiene investiert. Jetzt merken wir, dass wir an allen Stellen technische Abgänge haben - Signale, Weichen, Oberleitungen et cetera. Deshalb entstehen viele Verspätungen und Ausfälle, die sich in das gesamte Netz hinein potenzieren. Wir haben zu viele Züge auf einer dafür nicht ausgelegten Infrastruktur.
Wer ist dafür verantwortlich und welche Rolle spielt der VRN dabei?
Winnes: Der Bund mit seinem Unternehmen Deutsche Bahn ist für den Bau und die Unterhaltung der Schieneninfrastruktur zuständig. Die Länder sind mitverantwortlich als Aufgabenträger im Schienenpersonennahverkehr. Sie müssen beim Bund den Bedarf für den Nahverkehr anmelden. Als Verkehrsverbund haben wir nur bedingt Einwirkungsmöglichkeiten. Wir sind zwar bei Planungen und bei Finanzierungsfragen immer wieder gefordert, aber die Entscheidungen treffen der Bund und die Ländern zusammen mit der Bahn.
Aber Sie als VRN haben doch die Nähe zum Kunden in der jeweiligen Region. Haben Sie nicht auch zu spät festgestellt und kommuniziert, was da schief läuft und dass es viel Wut auf Bahnhöfen gibt?
Winnes: Wir haben das kommuniziert. Nehmen Sie den Knotenausbau Mannheim-Heidelberg. Wir brauchen hier zusätzliche Personengleise. Das wissen wir seit 23 Jahren. Seit der Debatte um den Bypass für die Neubautrasse nach Frankfurt im Jahr 2000 versuchen meine Vorgänger und der heutige Oberbürgermeister Christian Specht (CDU), den Bund, die Länder und die DB davon zu überzeugen, dass diese Gleise gebaut werden müssen. Wir stecken aber immer noch in den Planungsphasen eins und zwei fest.
Zuletzt waren Stellwerke nicht besetzt. An Wochenenden fielen zwischen Mannheim und Ludwigshafen komplette Ver- bindungen aus. Wie müssen wir uns das vorstellen? Ist da eine Person, die plötzlich krank wird?
Winnes: Diese Problematik ist vielschichtig und komplex. Das Bahnmanagement hat die betriebswirtschaftliche Rationalisierung überzogen. Die Stellwerke wurden richtigerweise digitalisiert, aber man benötigt eben trotzdem noch genug Menschen, um sie zu bedienen. Ein Stellwerk mit früher 45 Mitarbeitern hat noch 12. Wenn da jetzt einer krank wird, ist es viel schwieriger, kurzfristig einen Ersatz zu bekommen. Man braucht also einen Pool an Springern, die in mehreren Stellwerken flexibel einsetzbar sind. Der wurde aber nicht aufgebaut. Zusätzlich sind die Leute nach der Pandemie viel anfälliger für Infekte geworden und das Durchschnittsalter ist demografisch gestiegen. Wir haben einen akuten Fachkräftemangel. All das führt dazu, dass jetzt Stellwerke kurzfristig unbesetzt bleiben. Selbst wenn das in Mainz oder in Hanau passiert, hat das Auswirkungen hier bei uns.
Unser Gesprächspartner
- Michael Winnes seit Anfang 2023 Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar (VRN). Er löste Volkhard Malik ab, der in Ruhestand gegangen ist.
- Winnes war bereits seit 2004 Justiziar des VRN. Der heute 50-Jährige studierte in Heidelberg Jura und promovierte in Mannheim. „Dr. Winnes ist ausgewiesener Verkehrsexperte und in der Branche gut vernetzt“, sagte Christian Specht als langjähriger ZRN-Vorsitzender über ihn.
- Winnes lebt privat in Walldorf. Der Vater dreier Kinder ist verwitwet.
Aber erklären Sie doch mal die Durchsagen an Bahngleisen, die sich teilweise sogar widersprechen. Einerseits heißt es, dass die eine Linie wegen einer Stellwerks- problematik ausfällt. Die andere Linie, die auf demselben Gleis unterwegs ist, fährt dann aber durch. Das verstehen viele Leute nicht.
Winnes: Es gibt ja nicht nur ein Stellwerk. Je nachdem, aus welcher Richtung der Zug kommt, können unterschiedliche Stellwerke dafür verantwortlich sein. Das Problem für die Fahrgastinformation sind die ungeplanten Ausfälle, wenn sich kurzfristig jemand krankmeldet oder eine Weiche bricht. Dann haben wir keine Vorwarnzeit.
Ein neues Wort, das wir während der Pandemie gelernt haben, heißt Ausdünnung. Fahrpläne sind auch jetzt wieder ausgedünnt worden. Die Nibelungenbahn von Worms nach Bensheim beispielsweise, der Zugverkehr zwischen Neustadt/Weinstraße und Grünstadt in der Pfalz auch. Verstehen Sie, dass Fahrgäste gerade sehr laut auf die Bahn schimpfen? Was macht das mit Ihnen?
Winnes: Natürlich macht das was mit uns, denn die Kundenbeschwerden schlagen ja bei uns auf und wir wollen ehrlich mit unseren Kunden umgehen. Solange zu wenig Personal da ist, muss man das Angebot aber entsprechend reduzieren, damit die Fahrgäste wissen, was fährt und was nicht. Man darf nur einen Fahrplan anbieten, der auch stabil produziert werden kann. Wir wissen aber, was die Menschen an Mobilität benötigen und können das dann nicht erfüllen. Das ist schon eine schlimme Situation.
Die schlimmste, die Sie je erlebt haben?
Winnes: Die Phase im März 2020 zu Beginn der Corona-Krise war für mich noch zugespitzter. Wir mussten von heute auf Morgen völlig neue Fragen ganz schnell beantworten und hatten keine Ahnung, was noch alles passieren würde.
Das Heute fühlt sich ähnlich an.
Winnes: Ich bin seit 1999 beruflich im ÖPNV mit dabei. So eine betriebliche Problematik bei der Bahn habe ich noch nicht erlebt. Die Qualität hat sich seit dem Sommer dramatisch verschlechtert. Der ausgedünnte Fahrplan, den Sie ansprechen, ist die Folge von Fachkräftemangel und Demografie. Wir haben zu wenig Lokführer, zu wenig Stellwerker, zu wenig Handwerker. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und nicht nur eines der Bahn.
Also auch eine Frage des Umgangs mit Zuwanderung.
Winnes: Ein Stellwerk ist eine hochkomplexe Aufgabe. Da können Sie nicht einfach jemanden nach zwei, drei Monaten hinsetzen. Kein Stellwerk ist mit einem anderen vergleichbar. Sie müssen jede Weiche vor Ort kennen.
Trotzdem kann man ja jetzt nicht sagen, wir warten mal ab, oder?
Winnes: Die Frage treibt mich wirklich um. Wir haben in der öffentlichen Debatte zwei Stränge, die sich völlig widersprechen. Alle erwarten eine Verkehrswende aus Klimaschutzgründen und um die Innenstädte zu entlasten. Das Ziel ist eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen. Die Bahn kann aber schon das aktuelle Angebot nicht mehr stabil produzieren und auch im Busverkehr fehlen uns mittlerweile Fahrer. Wie soll ich da das Angebot ausweiten?
Ausgedünnter Verkehr und Deutschlandticket widersprechen sich auch. Man lockt die Leute in Scharen auf die Schiene, um ihnen dann zu zeigen, dass sie nicht funktioniert?
Winnes: Ich erlebe die Problematik auch, im Fernverkehr ist sie noch schlimmer. Momentan halte ich es - schweren Herzens - für absolut richtig, Fahrpläne auszudünnen, damit sich die Menschen wieder auf den Zugverkehr verlassen können. Solange, bis das Personalproblem gelöst ist. Kurzfristige Ausfälle, wenn Fahrgäste schon am Bahnsteig stehen, beschädigen das Image des kompletten ÖPNV.
Es muss Ihnen doch Sorgen machen, wie lange es dauert, das Vertrauen zurückzugewinnen. Ich kenne Leute, die ihr Auto verkauft haben wegen des Deutschlandtickets. Jetzt wollen sie ihr Auto zurück.
Winnes: Wir Fachleute haben immer wieder gesagt, dass als erster Schritt das Angebot ausgebaut werden muss und erst danach die Ticketpreise reduziert werden sollen. Die Politik hat es leider genau umgekehrt gemacht.
Liegt Bundesverkehrsminister Volker Wissing also falsch?
Winnes: Zu seiner Ehrenrettung: Er tut nicht genug, aber im Vergleich zu seinen Vorgängern tut er wenigstens etwas. Die Riedbahnsperrung wird ganz furchtbar werden für uns alle, aber es geht kein Weg an ihr vorbei. Diesen Mut hat er. Aber das reicht noch nicht aus. Die Menschen erleben genau das, was Sie geschildert haben. Wenn ich Neukunden mit dem Preis locke, muss ich ihnen auch ein gutes Produkt bieten. Das kann die Bahn aktuell aber nicht. Das Deutschlandticket zu diesem günstigen Preis kam deshalb zum völlig falschen Zeitpunkt. Dass wir die Tarifgrenzen aufgehoben haben, war aber absolut richtig. Das Deutschlandticket war also richtig, sein Preis aber zu niedrig. Und es darf nicht weiter als die politische Lösung der Verkehrsprobleme verkauft werden.
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In der Debatte fordert Wissing seit Monaten immer wieder die Reduzierung der mehr als 60 Verkehrsverbünde in Deutschland. Das würde Geld sparen, sagt er. Damit wäre doch auch ihr Job gefährdet?
Winnes: Nein, wir sind der größte Verkehrsverbund, wenn es um die Anzahl der Landkreise und Städte geht. Herrn Wissing muss man an seinen Taten messen. Als er noch Verkehrsminister in Rheinland-Pfalz war, hat er am Anfang seiner Amtszeit genauso viele Verkehrsverbünde gehabt wie am Ende.
Wie sehen Sie die Entwicklung des Preises für das Ticket? 49 Euro werden nicht mehr zu halten sein?
Winnes: Es wird aus meiner persönlichen Sicht zum 1. Mai 2024 eine Preisanpassung geben. Über die Größenordnung kann man noch wenig sagen. Vernünftig wäre es, einen Preisunterschied zwischen Jahres- und Monatsticket zu machen. Das Monatsticket sollte spürbar teurer als das Jahresabo sein. Ob sich hier die Vernunft durchsetzt, muss man abwarten.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Meinung S-Bahn Rhein-Neckar: Es fährt kein Zug nach Irgendwo