Mannheim. Die Ludwigshafener Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck hat ihr SPD-Parteibuch abgegeben, weil sie sich von ihrer Partei nicht unterstützt fühlt. Sie will den Austritt als „Weckruf“ verstanden wissen. Im pfälzischen Freisbach ist gar der ganze Gemeinderat inklusive ehrenamtlichem Bürgermeister zurückgetreten.
In Mannheim kehren zwei Grünen-Gemeinderäte der Partei den Rücken, weil diese ihrer Meinung nach an der Lebensrealität der Menschen vorbeigeht. Im Kreis Alzey-Worms kehrt der Verbandsbürgermeister Maximilian Abstein der CDU den Rücken, weil er Positionen der Mutterpartei nicht mehr vertreten kann. Wie ordnet der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte das Phänomen ein?
Herr Professor Korte, sind nun auch unsere Amts- und Mandatsträger politikverdrossen?
Karl-Rudolf Korte: Wenn man genau hinschaut, sind die Gründe sehr unterschiedlich. Aber wir können durchaus Politikverdrossenheit und auch Politiker-Verdrossenheit messen – umgekehrt allerdings auch eine Form der Bevölkerungsverdrossenheit bei einigen Spitzenpolitikern. Das ist eine wechselseitige Beziehung.
Parteiaustritte und Rücktritte aus Frust sind ja kein neues Phänomen. Aber aktuell häufen sich zumindest gefühlt derartige Meldungen. Beobachten auch Sie eine Häufung?
Korte: Es gibt die Tendenz vor allem auf kommunaler Ebene, die Wähler über ein Flair von Ungebundenheit ohne Parteibindung besser mobilisieren zu können. Damit steht man nicht in der Mitverantwortung für die Großpartei und muss auch nicht die gesamte Programmatik mitvertreten. Das ist Absetzbewegung von den etablierten Parteien.
Professor Karl-Rudolf Korte
- Karl-Rudolf Korte ist seit 2003 Universitätsprofessor an der Universität Duisburg-Essen. Sein Schwerpunkt ist das politische System der Bundesrepublik Deutschland.
- Der 64-Jährige promovierte 1988 an der Johannes- Gutenberg-Universität in Mainz und habilitierte sich 1997 an der Ludwig Maximilians Universität München.
- Seit über 20 Jahren begleitet er als Parteien- und Wahlforscher alle Wahlsendungen des ZDF.
- Karl-Rudolf Korte lebt in Worms und ist dort unter anderem Kuratoriumsmitglied der Nibelungenfestspiele. bjz
Meist sind es die Vertreter der kommunalen Ebene, die frustriert das Handtuch werfen. Beißen den Letzten die Hunde?
Korte: Es gibt eine messbare Gesprächsstörung zwischen den Bürgern und der Politik und den Parteien, gleichermaßen von Bürgern gegenüber Medien. Da werden Repräsentationsfragen aufgeworfen: Wer fühlt sich von wem noch angemessen vertreten? Und das lässt sich genauso auch bei einigen Parteivertretern erkennen: Sie fühlen sich nicht mehr aufgehoben in ihren traditionellen Parteien. Allerdings verkennen sie dabei, dass sie dieses Amt nur über eine Parteikarriere errungen haben.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat kürzlich eine Studie vorgestellt, wonach sich die Demokratie in einer Krise befinde. Nur noch 38 Prozent halten sie demnach für die beste Staatsform.
Korte: Die Demokratie ist sicherlich unter Druck. Aber an Wahltagen kann man das bisher nicht bundesweit erkennen. Sowohl bei der Wahlbeteiligung als auch an der Wahl der Parteien der politischen Mitte hat sich wenig verändert. Die Deutschen wählen mittig und moderat. All das, was wir im Moment öffentlich wahrnehmen, sind Umfragedaten. Wir werden das in Wiesbaden bald genauso wie in München erkennen: Die Mitte gewinnt, nicht die Ränder. Insofern gibt es immer Momentaufnahmen, die Unzufriedenheiten messen. Wenn Regierungen für erkennbare Problemlösungen sorgen, steigen die Wiederwahlchancen. Wer sich für den funktionierenden Staat einsetzt, wird am Wahltag belohnt.
Wenn wie in Freisbach ein kompletter Gemeinderat hinwirft und sich kein Nachfolger findet, droht dann das Ende der politischen kommunalen Selbstverwaltung?
Korte: Ja. Und das ist ein dramatischer Befund. Die Demokratie lebt ausschließlich von Teilhabe und Teilnahme. Demokratie ist keine Serviceeinrichtung, die irgendeiner zur Verfügung stellt. Wir müssen legitimierte Mehrheiten organisieren. Und dazu brauchen wir demokratisch gewählte Gremien.
Es war von dieser Gemeinde ein Weckruf in Richtung Landesregierung. Ursache war die Kritik an der chronischen Unterfinanzierung der Gemeinde. Müssen Land und Bund nicht auch die kommunale Finanzausstattung stärken, um Demokratie dauerhaft zu sichern?
Korte: Diese Bewegung zeichnet sich seit Monaten ab. Ohne Entschuldung können kommunale Infrastrukturen nicht mehr aufrechterhalten werden. Wir wissen, dass ansonsten politische Vereinsamung entsteht. Und politische Einsamkeit führt automatisch zur Wahl von Extremen und Extremisten. Eine ausreichende Finanzausstattung der Kommunen ist also eine Garantie für die Qualität von Demokratie. Das ist elementar, aber sehr kompliziert und setzt eine schwierige Kommunikation zwischen Bund und Ländern voraus. Ein Rückzug aus den Gremien und Hinwerfen löst indessen kein Problem und wird einer Kommune auch keinen zusätzlichen Cent bringen.
Frau Steinruck bleibt im Amt und hat „nur“ ihr SPD-Parteibuch zurückgegeben. Erweist sie damit sich und ihrer Arbeit als Verwaltungschefin nicht einen Bärendienst? Sie wird ja bei den nächsten Bitten um Unterstützung wahrscheinlich bei den ehemaligen Parteifreunden in Mainz nicht gerade auf Begeisterung stoßen. Schadet sie mit ihrem Parteiaustritt der Stadt Ludwigshafen?
Korte: Ja, das sehe ich so. Einsamkeitsgiganten kommen nicht weit. Man braucht verlässliche, belastbare und vertrauensvolle Netzwerke – gerade auch parteipolitische. Hier ist offenbar ein Vertrauensbruch entstanden. Den kann man nur schwer überbrücken, wenn man am Ende als Stadt Ludwigshafen weiter mit der Landesregierung kommunizieren möchte.
Ist eine bessere und intensivere Kommunikation der Königsweg aus der Politikverdrossenheit?
Korte: Eine Kommunikation ist ganz wichtig, um die Vorhaben, Veränderungen und Transformationsprozesse nicht nur zu erläutern. Sie sollte von Zumutungsmut getragen sein und veränderungszuversichtlich werben. Wo liegt der Nutzen für die Bürger, wenn Veränderungen anstehen? Wer nimmt uns die Ängste, die damit immer verbunden sind? Eine angemessene finanzielle Ausstattung der kommunalen Infrastruktur ist dabei ein Ankerpunkt, um für Demokratie und Bürgerstolz zu werben.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Frust von Amts- und Mandatsträgern: Die Gefahr des Weckrufs