Mannheim. Wann haben Sie Ihr erstes Handy gekauft? Wenn Sie damals bereits erwachsen waren, dann sicher in den 1990ern. Denn ab Mitte jenes Jahrzehnts kommt der Mobilfunk in Deutschland so richtig in Fahrt, wird das Handy vom Angeber-Ding zum Alltagsgegenstand. Die 1990er werden zum Jahrzehnt für den Durchbruch der Digitalisierung, damit Basis unseres heutigen Lebens. An sie erinnert die jüngste, die sechste Ausgabe der „MM“-Edition „Epoche“.
Nicht nur das Handy erlebt in jenem Jahrzehnt seinen Durchbruch, sondern auch das Internet, nachdem es 1993 in Deutschland „frei geschaltet“ wird. Und mit ihm natürlich auch die elektronische Post, die E-Mail. Microsoft wiederum setzt mit Windows 95 als eigenem Betriebssystem und frischer grafischer Oberfläche neue Maßstäbe im PC-Bereich. Doch ein Print-Produkt beginnt 1997 ebenfalls seinen Siegeszug: die Romanfigur „Harry Potter“.
Viagra und „Arschgeweih“
Auch im zwischenmenschlichen Bereich kommt es zu einer Innovation: Am 1. Oktober 1998 geht Viagra, ein Potenzmittel für Männer, auf den Markt. Anfangs gut für Büttenreden, verliert die hellblaue Pille in Rautenform bald ihren Tabu-Status.
Überhaupt ist vieles neu in der Spaßgesellschaft der 1990er Jahre – oder der „Generation X“, wie sie nach dem Titel des Romans von Douglas Coupland benannt wird. In der Mode erleben Plateauschuhe als Buffalo Boots ein Comeback, Frauen tragen mit Crop Tops bauchfrei. Piercing und Tattoo, bislang eher Kennzeichen der Halbwelt, werden salonfähig, bis hin zum „Arschgeweih“, das Ende der 1990er seinen Siegeszug antritt. In Sachen Schönheit werden drei Super-Models zu Trendsetterinnen: Kate Moss, Naomi Campbell und Claudia Schiffer.
„Epoche – die 1990er“
- Inhalt: 28 Seiten mit Nachdrucken aus „MM“-Seiten der 1990er Jahre sowie zwei Seiten historische Einordnung.
- Idee und Auswahl: Reimund Dunschen, „MM“-Archiv.
- Historische Einordnung: „MM“-Redakteure Konstantin Groß (International/Deutschland) und Peter W. Ragge (Mannheim).
- Projektleitung: Stephan Eisner.
- Preis Einzelausgabe: 11,90 Euro (10,50 Euro mit Premium-Karte).
- Starter-Paket mit allen bisher veröffentlichten Ausgaben: 75,40 Euro (66,50 Euro mit Premium-Karte).
- Weitere Infos/Bestellung: meinmorgen.app/epoche oder Telefon 0621/392-2097 oder Mein Morgen Service-Shop, MA, Dudenstraße 12-26, Mo-Do 9-15 Uhr.
Natürlich nimmt auch die Werbung dieses Lebensgefühl auf. Toyota versichert „Nichts ist unmöglich“ und der MediaMarkt „Ich bin doch nicht blöd“. Die grammatikalische Konstruktion, mit der Verona Feldbusch für die Telefon-Auskunft wirbt, wird Kult: „Hier werden Sie geholfen!“ Aber seit der
Rechtschreibreform von 1996 herrscht ja ohnehin Chaos in der deutschen Sprache.
Damit der Konsum der Spaßgesellschaft weniger Grenzen findet, wird 1996 das Ladenschlussgesetz gerupft: Fortan darf an Wochentagen bis abends, samstags auch nachmittags und sogar sonntags für einige Stunden geshoppt werden, zumindest in Bäckereien.
Techno und Matthias Reim
Die 1990er entwickeln für sich eine neue Musik. Techno kommt auf und wird, unterstützt durch Ecstasy, ganze Nächte hindurch in Clubs, auf Festivals und auf der großen Love Parade in Berlin gefeiert. Marusha und Dr. Motte sind Berühmtheiten dieses Genres. Boy Groups erblicken das Licht der Welt. Der deutsche Schlager dagegen gerät in die Krise; in seinem nun kleineren Markt steigt ein neuer Stern auf: Matthias Reim.
Reine Musiksender gehen auf Sendung: 1993 Viva und 1997 die deutsche Version von MTV. Ohnehin setzt sich der Siegeszug der Privaten zu Lasten der Öffentlich-Rechtlichen ARD und ZDF fort. Täglich gibt es dort nun Talkshows (mit Hans Meiser oder Ilona Christen) und Serien („Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ ist 1990 die erste Daily Soap) und natürlich Erotik: „Tutti Frutti“ mit Hugo Egon Balder. Keiner will sie gesehen haben, doch im Sommer hört man aus vielen Wohnungen die prägnante Erkennungsmelodie. Und verdächtig viele Zeitgenossen wissen, was „Länderpunkte“ sind. Die bunten Nachrichten werden geprägt vom Rosenkrieg im britischen Königshaus zwischen Prinz Charles und seiner Frau Diana, deren Tod viele Menschen bewegt. Im Gletschereis wird die Mumie Ötzi entdeckt, und es kommt zur Sofi, der Sonnenfinsternis, in unserer Region besonders gut zu sehen in Speyer.
Die 90er sind Erfolgsjahrzehnt des deutschen Sports: 1990 wird Deutschland Fußball-Weltmeister und 1991 Boris Becker Nr. 1 im Welt-Tennis, 1993 Franziska von Almsick Europameisterin im Schwimmen und Henry Maske Weltmeister im Boxen, 1994 Michael Schumacher Gewinner der Formel 1 und 1997 Jan Ullrich Sieger der Tour-de-France. Wie, das wird man erst später erfahren.
Die 90er sind auch das Jahrzehnt der bis dahin brutalsten ausländerfeindlichen Anschläge in Deutschland: 1991 greifen Neonazis im sächsischen Hoyerswerda ein Flüchtlingsheim mit Benzinbomben an und verletzen 32 Menschen; 1992 belagert tagelang der Mob in Rostock-Lichtenhagen ein Flüchtlingsheim; ebenfalls 1992 werden bei einem Brandanschlag auf ein von türkischen Familien bewohntes Haus in Mölln drei Menschen getötet und neun schwer verletzt; 1993 sterben in Solingen bei einem Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie zwei Frauen und drei Mädchen.
Die Reaktion ähnelt der heutigen: In vielen Städten kommt es zu „Menschenketten“, an denen sich Hunderttausende beteiligen, in Mannheim und Ludwigshafen über die Rheinbrücke hinweg 40 000. Dennoch erringt die neue Rechtspartei „Die Republikaner“ bei Wahlen spektakuläre Erfolge; in Baden-Württemberg zieht sie 1992 mit fast elf Prozent in den Landtag ein. Der Spuk endet erst, als sich CDU/CSU, FDP und SPD 1993 auf eine Grundgesetzänderung einigen, die das Asylrecht und damit den Zustrom Asylsuchender spürbar einschränkt.
Dabei könnten die Deutschen so glücklich sein: Am 3. Oktober 1990 feiert das Land das Ende seiner Teilung. Der bislang als tumber Tor aus der Pfalz verlachte Helmut Kohl wird zum Kanzler der Einheit und damit zunächst politisch unschlagbar.
Im Laufe des Jahrzehnts jedoch legt sich politisch sklerotische Stimmung über das Land. Selbst der von Kohl zum Bundespräsidenten gemachte Roman Herzog fordert in einer aufsehenerregenden Rede 1997, es müsse „ein Ruck durch Deutschland gehen“. Am Ende seiner 16 Jahre langen Amtszeit wirkt der fast 70-jährige Kohl wie aus der Zeit gefallen und verliert 1998 die Bundestagswahl gegen den dynamisch erscheinenden Gerhard Schröder. Doch auch Rot-Grün wird bald aus seinen politischen Blütenträumen gerissen.
Neuordnung der Welt
Denn international stehen die 1990er im Zeichen einer Neuordnung der Welt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt Europa seinen ersten Krieg seit 1945 mit vielfachem Sterben: Der Vielvölkerstaat Jugoslawien bricht auseinander, die Menschen des Balkans bekriegen sich mit unerträglicher Grausamkeit. Viele müssen fliehen.
Auch außerhalb Europas ist die Welt in Aufruhr. 1990 überfällt der irakische Diktator Saddam Hussein seinen Nachbarn Kuwait. Als er den Forderungen der Weltgemeinschaft nach einem Rückzug nicht nachkommt, setzt sich eine internationale Militärkoalition unter Führung der USA in Gang. Das Sterben am Golf hat Auswirkungen bis nach Deutschland: Die Fasnacht fällt ebenso aus wie große Volksfeste.
In Südafrika gelingt dagegen friedlich das Ende des weißen Apartheid-Regimes hin zur Regierung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit. Nach 27 Jahren Kerkerhaft wird Nelson Mandela entlassen und in erstmals wirklich freien Wahlen Präsident der neuen Regenbogennation. An anderer Stelle Afrikas sind die Entwicklungen dramatischer: In Ruanda kommt es zu einem der größten Genozide der neueren Geschichte. Eine Million Menschen fallen ihm zum Opfer. Und die Welt schaut zu.
Nicht zuschauen kann und will sie in Russland. 1990 kommt es zu einem Putsch konservativer Kräfte gegen Michail Gorbatschow. Dieser scheitert zwar, aber kurz danach auch Gorbatschow, an den Unzulänglichkeiten des Systems. Neuer starker Mann wird Boris Jelzin, außenpolitisch auf Ausgleich bedacht, innenpolitisch aber erfolglos und als Person bald nur eine tragische Figur.
Am letzten Tag des Jahrzehnts, dem 31. Dezember 1999, übergibt Jelzin sein Amt einem Mann, der die Welt ein Viertel Jahrhundert später mit seinem Überfall auf die Ukraine in eine neue dramatische Krise stürzen wird: Wladimir Putin.
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