Heidelberg / Ludwigshafen. Im kommenden April wird erstmals eine Studentin an der Universität Heidelberg den Marie-Luise-Jung-Preis entgegennehmen. Eine herausragende Absolventin mit einem Masterexamen wird es sein, die eine Promotion und damit den Verbleib in der Wissenschaft anstrebt. Die eine Zukunft hat in der akademischen Welt. So wie sie sich die junge Frau ausgemalt hat, deren Namen der Preis trägt. Marie Luise Jung wird diese Zukunft nicht erleben. Sie wird ihr Anfang des Jahres 2022 geraubt bei einer Amoktat, die die gesamte Region erstarren lässt. Jung ist gerade 23 Jahre alt, als ihr Leben durch einen 18-Jährigen ausgelöscht wird. Es soll nicht die letzte erschütternde Bluttat des Jahres bleiben.
Es ist der 24. Januar. Mittagszeit. Im Gebäude INF 360 auf dem Campus im Neuenheimer Feld findet gerade ein Tutorium statt. 30 Studierende der Biologie sind anwesend, als ein 18-Jähriger mit zwei Langwaffen und 100 Schuss Munition im Rucksack in den Raum stürmt und um sich schießt. Mehrere Studierende werden verletzt, eine davon ist die 23-jährige Marie Luise Jung aus der Pfalz. Am Nachmittag meldet die Klinik, dass die junge Frau ihren Verletzungen erlegen ist. Die weiteren Opfer überleben. Der Täter, der in Mannheim lebt und ebenfalls für das Fach Biologie an der Uni Heidelberg eingeschrieben ist, richtet sich auf der Flucht selbst. Polizisten finden seine Leiche draußen vor dem Gebäude, in dem er um sich geschossen hatte.
Der Schock und die Anteilnahme unmittelbar nach der Tat sind groß. „Es ist ein fürchterlicher Tag für uns alle“, sagt Oberbürgermeister Eckart Würzner, der lange bei den Einsatzkräften ausharrt. „Wir sind unendlich schockiert. Das ist eine Katastrophe, die sich allem Denkbaren zwischen Vorlesungen, Klausuren und Unileben entzieht“, fasst Peter Abelmann, Vorsitzender der Verfassten Studierendenschaft (Stura), die Gefühle wohl aller Studenten in Worte.
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Die Hintergründe der Tat bleiben nebulös. Ein handfestes Motiv können die Ermittler nicht finden. Bei dem Täter handelt es sich offenbar um einen Einzelgänger, der keine sozialen Bindungen zu seinen Mitstudenten gehabt haben soll. Mitwisser soll es nicht gegeben haben. Kurz vor der Tat habe der 18-Jährige seinem Vater eine Nachricht geschickt mit der Ankündigung, dass „die Leute“ jetzt büßen müssten. Letztlich spricht aus Sicht der Behörden viel dafür, dass die Amoktat ein Racheakt für eine in seiner Vorstellungswelt erlittene Kränkung gewesen ist.
Nun nähert sich der Jahrestag der Bluttat mit großen Schritten. Am 24. Januar soll der Opfer mit zwei Veranstaltungen gedacht werden, wie Peter Abelmann im Gespräch mit dieser Redaktion berichtet. Die Universität plane ein stilles Requiem in der Neuen Aula. Für den Abend organisiert die Stura gemeinsam mit dem Theater eine Veranstaltung im Zwinger. „Nach der reinen Gedenkveranstaltung öffnen wir das Thema dort ein bisschen“, erläutert Abelmann. „Es soll um Gewaltdynamiken im universitären Umfeld gehen. Ein Abend gegen Hass, gegen Angriffe auf unsere freiheitliche Gemeinschaft und gegen das Vergessen.“
„Es musste weitergehen“
Knapp ein Jahr nach der Amoktat sei das Thema an der Uni zwar noch präsent, aber eher in einem kleineren Personenkreis, berichtet Abelmann. „Es ging ja leider weiter mit dem Krieg in der Ukraine und anderen schlimmen Nachrichten. Diese haben die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es musste weitergehen“, so der Stura-Vorsitzende. Doch einige können die Gedanken nicht loswerden und spüren sie noch, die Angst. Dies habe sich zuletzt bei einem Bombenalarm an der Uni gezeigt, der einige wieder aufgewühlt habe.
Ein Meer aus Grablichtern und Blumen bedeckt am 23. Oktober den Bürgersteig in der Philipp-Scheidemann-Straße im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim. Die Blutlache, die hier noch wenige Tage zuvor zu sehen war, ist mittlerweile verschwunden. Die Fassungslosigkeit aber ist noch da. Sie ist förmlich greifbar an diesem Sonntag, an dem rund 1200 Menschen zusammengekommen sind, um der Opfer eines brutalen Verbrechens zu gedenken.
Fünf Tage zuvor sterben hier mitten in der Wohnsiedlung zwei Menschen. Bei einem brutalen Messerangriff, der bundesweit Schlagzeilen macht, und der bis heute viele Fragen aufwirft. Gegen 12 Uhr attackiert ein Mann in der Philipp-Scheidemann-Straße zwei Mitarbeiter eines Raumgestaltungsbetriebs mit einem 25 Zentimeter langen Messer. Für Jonas Sprengart, 20 Jahre alt, und Sascha Kraft, 35 Jahre alt, kommt jede Hilfe zu spät. Der Täter, verdächtigt wird ein 25-jähriger Somalier, setzt im Anschluss seinen Weg fort in die Comeniusstraße, 500 Meter vom ersten Tatort entfernt. In einer Rossmann-Filiale greift er einen weiteren Mann an und verletzt diesen schwer. Die inzwischen alarmierten Polizisten schießen den Angreifer nieder.
Die Frage nach dem Warum
Ein eindeutiges Motiv gibt es auch bei dieser Bluttat nicht. Einen terroristischen oder extremistischen Hintergrund schließen die Ermittler bislang aus. Womöglich könnte der Ausbruch der Gewalt in einer Auseinandersetzung des 25-Jährigen mit seiner Ex-Partnerin seinen Ursprung haben. Die Frau wohnt in der Philipp-Scheidemann-Straße - und der Täter soll laut Polizei dem jüngeren Opfer einen Unterarm abgetrennt und diesen auf den Balkon der Frau geworfen haben.
Der Verdächtige selbst hat sich nicht geäußert. Wegen der schieren Brutalität der Tat wird er psychiatrisch untersucht. Die Ermittlungen könnten in der ersten Jahreshälfte 2023 abgeschlossen werden. Dann wird dem 25-Jährigen aller Voraussicht nach der Prozess gemacht. Ein Prozess, der womöglich Antworten liefern kann. Insbesondere für die Hinterbliebenen der Opfer, die nicht nur von Erinnerungen und Bildern im Kopf geplagt werden, sondern auch von einer Frage: Warum?
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