100 Jahre Tanzschule in Speyer

100 Jahre Tanzschule Thiele in Speyer: Wie sich die Generation Abschlussball verändert hat

Die Speyerer Tanzschule Thiele existiert seit genau 100 Jahren. Heute tanzen Jungs auch mit Jungs und das Smartphone gibt die Dancing-Trends vor. Die 67-jährige Inhaberin tut sich nicht mehr alles an.

Von 
Stephan Alfter
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Ob Standard-Tanz oder Line-Dance - beim Tanz-Treff Thiele in Speyer wird seit 100 Jahren vermittelt, wie man sich gemeinsam bewegt. Heute ist das Tanzen individueller als 1925. © Tanztreff Thiele

Speyer. Als Lambada 1989 die Tanzschulen der Republik erreichte, stand Ulla Kullik an der Front. Tausende Menschen, die sich noch nie zuvor auf einer Tanzfläche zurechtgefunden hatten, wollten plötzlich diesen lasziven Hüftschwung aus dem gleichnamigen Musikvideo beherrschen – und waren damit heillos überfordert. „Das sah einfach aus, war aber ein schwieriger Tanz“, erinnert sich Kullik. Seither hat sie vor allem die Generation Abschlussball über viele Jahre begleitet. Die 67-Jährige denkt langsam ans Aufhören. Ihr Tanz-Treff Thiele in Speyer feiert an diesem Samstag sein 100-jähriges Bestehen.

Tanzen und Etikette sind über Jahrhunderte miteinander verwoben. Wer zur Tanzstunde ging, der musste damit rechnen, zum ersten Mal recht nah mit dem anderen Geschlecht konfrontiert zu werden. Für manch introvertierte Leseratte war diese Herausforderung größer als das später folgende Abitur. Wie fasst man das Mädchen am elegantesten an? Welches Parfüm lasse ich lieber im Schrank und welche Schuhe ziehe ich an, um ihr nicht zu sehr weh zu tun, wenn ich ihr auf den Fuß trete. Ulla Kullik und ihr bereits im Jahr 2011 verstorbener Bruder Peter Thiele haben viel Testosteron gerochen und womöglich so manches Mädchen weinen sehen in den vergangenen Jahrzehnten.

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Der Generation Abschlussball, oft zwischen 14 und 17 Jahre alt, haben sie dabei Disziplin und Benimmregeln vermittelt. Dass die Arbeiterschuhe mit Stahlkappen sich nicht mit dem teuren Parkett auf dem Boden in der Tanzschule im Herzen von Speyer vertragen, gehörte ebenso dazu, wie die korrekte Aufforderung zum Tanz. „Es ist nicht mehr der alte Knigge“, sagt Ulla Kullik zu den neueren Entwicklungen in ihrem Haus. Es gehe immer noch um Höflichkeit und Respekt, aber um einen moderneren Umgang mit den Begriffen. Was sich kaum verändert hat, ist die Tatsache, dass immer noch einige Tanzschüler von ihren Eltern geschickt werden.

Neue Tanzgewohnheiten schlagen sich auch in der Sprache nieder

Sehr wohl beobachtet hat Kullik eine Veränderung in der Kommunikation – nicht immer zum Positiven. Wegen Handys und sozialer Netzwerke hätten manche Menschen verlernt, normal miteinander umzugehen. Das könne man in der Tanzschule (wieder) lernen. Eine weitere Wahrnehmung von Kullik ist, dass die Aufmerksamkeitsspanne kürzer geworden ist. Die Kursteilnehmer seien früher ruhiger gewesen und hätten sich mehr konzentriert. „Ich habe das Gefühl, sie sind heute wilder.“

Was es früher eher nicht gab, waren Single-Kurse – also Tanzstunden für Menschen, die einen Partner verloren haben. Oder für Leute, die einen neuen Partner suchen. Oder eben für Menschen, die einfach Gemeinschaft finden wollen, weil der eigene Ehemann oder die eigene Ehefrau, keine Lust auf Tanzen hat. Katy Schulz, seit vielen Jahren Tanzlehrerin in Speyer, nennt einen anderen Punkt, der sich gewandelt hat: Früher, so sagt sie, habe man in der Tanzschule großen Wert darauf gelegt, dass Herren mit Damen beziehungsweise Jungs mit Mädchen tanzen. Stellenweise haben Tanzlehrer andere Konstellationen sogar verboten. Heute komme es oft vor, dass zwei Mädels zusammen tanzen – oder auch zwei Jungs. Dadurch verändere sich wiederum die Sprache, die das Geschlecht immer öfter ignoriere und stattdessen die Begriffe Leader (Führer) und Follower (Geführte) verwende. Schulz hat außerdem beobachtet, dass sich die äußerlichen Unterschiede zwischen 14-jährigen Mädchen und 14-jährigen Jungs verstärkt haben. Die Ausschnitte der Mädchen seien tiefer geworden, die Schminkkompetenzen höher.

Ulla Kulik und ihr designierter Nachfolger Julius Michalczak vor der neuen Bar im Tanztreff Thiele in Speyer. © Katy Schulz

Julius Michalczak ist der designierte Nachfolger von Ulla Kullik. Er wird die Geschichte des Tanz-Treff Thiele im zweiten Jahrhundert des Bestehens weiter erzählen. Der 29-Jährige hat eine Erzieher-Ausbildung gemacht. Er teilt die Sichtweise seiner Noch-Chefin, dass der negative Einfluss digitaler Medien auch in der Tanzschule sichtbar werde. Alles etwas hibbeligger. Grundsätzlich, so seine Relativierung, seien Leute, die eine Tanzschule besuchen, in Sachen Etikette oft schon weiter als andere Teile der Gesellschaft.

Tanzen hat nachgewiesenermaßen Anti-Aging-Effekte

Was in den 90er Jahren Mambo oder Lambada war, das heißt heute K-Pop und Line Dance, sagt Michalczak, der als 14-Jähriger in die Tanzschule gekommen ist und hier einfach hängen geblieben ist. Ewig aktuell sind laut Kullik die „Latin Moves“ – also Salsa, Bachata und Kizomba. Rund 900 Menschen erreicht die Tanzschule, die dem Allgemeinen Deutschen Tanzlehrer Verband (ADTV) angeschlossen ist, regelmäßig. Das Kursprogramm ist vielfältiger denn je, denn es reicht vom Schwangeren-Tanz bis zur Agilado-Gruppe, in der die älteste Teilnehmerin mit 81 unterwegs ist.

Dass Tanzen gerade hoch im Kurs steht, hat seinen Ursprung auch in der Forschung. Für die Freizeitaktivität ist eine hohe Anti-Aging-Wirkung nachgewiesen worden, da es sowohl die körperliche als auch die geistige Gesundheit fördert. Die Generation Abschlussball aus den 70er Jahren geht beim Tanz-Treff Thiele heute zum Seniorentanz.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar

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