In den 1970er Jahren kursierte ein Witz, der die Welle sozialpädagogischer Konzepte auf die Schippe nahm. Fragt ein Sozialarbeiter den anderen: Wie viel Uhr ist es? Antwort: Habe keine Uhr – aber ich finde es total motivierend, wie vorurteilsfrei wir das hier gerade diskutiert haben. An diesen Kalauer fühlt sich der Betrachter am Ende der Online-Bürgerversammlung über die Otto-Bauder-Anlage erinnert. Auch hier wurde sehr, sehr viel geredet, doch nur wenig geklärt.
Schon der Name Bürger-Information traf die Sache nicht ganz: Fast 90 Prozent der Teilnehmer waren nähere oder weitere Anrainer. Es war also eher eine Anlieger-Information. Die Teilnehmer – und alle Bürgerbeiträge kamen bis auf einen in der Tat nur von Männern – artikulierten vor allem Sorgen um die schöne Aussicht aus dem eigenen Garten oder über mehr Verkehr. Bedürfnisse junger Familien auf der Suche nach preisgünstigem Wohnraum spielten kaum eine Rolle.
Trotz allem teuer
Wobei „preisgünstiger Wohnraum“ auch schon ein Euphemismus ist. Der Mietpreis auf „Otto Bauder“ wird wohl so um die 8,25 Euro betragen. Und ein Viertel des Baulandes ist Einfamilienhäusern vorbehalten. Die werden in vier Jahren, wenn gebaut wird, bis zu einer dreiviertel Million Euro kosten. Ob dies dem Anforderungsprofil einer Großstadt wie Mannheim im Kampf gegen die Wohnraumnot entspricht?
Richtig ist das Projekt hier dennoch. Schaffung von Wohnraum ist neben der Klima- und Energiewende das wichtigste gesamtgesellschaftliche Anliegen. Doch wenn dies nachhaltig sein soll, dann muss die Innenverdichtung Vorrang haben vor dem Zubetonieren von Außenbereichen. Dass es bei dieser Innenverdichtung zu Konflikten mit der bestehenden Bebauung kommt, ist klar. Politik muss sie aushalten und abwägen. Überspitzt gesagt: zwischen dem Recht auf Wohnen und dem auf schöne Aussicht.
Neues Quartier hat Vorrang
Dennoch muss man die Sorgen der Nachbarschaft kennen, sie ernst nehmen und wo es nur geht auch berücksichtigen. Doch klar ist auch: Ausgerichtet werden muss das neue Quartier vor allem auf die Bedürfnisse der bis zu 1000 Menschen, die hier dereinst leben werden. Darauf, dass sie ein infrastrukturell und sozial funktionierendes Quartier erhalten.
Kopfschütteln muss in diesem Sinne die Forderung von Anwohnern auslösen, auf den geplanten verkehrsberuhigten Bereich vor der zentralen Kita zu verzichten – damit von der Umgehungsstraße eine direkte Durchfahrt durch das ganze neue Quartier möglich und eine Zufahrt aus der bestehenden Siedlung erschwert wird. Die beiden einzigen jungen Väter unter den Rednern haben zum Glück das Passende dazu gesagt.
Unrealistische Verkehrs-Ideen
Mit einem haben die Anwohner jedoch Recht: Die verkehrspolitischen Vorstellungen von Stadt und Planern sind irreal. Die Hoffnung, hier würden Menschen einziehen, die sich vor allem mit Fahrrädern statt mit Autos bewegen, ist ein Traum. Mit einer Parkraumplanung, die darauf beruht, ist das Parkchaos der Zukunft im Quartier schon vorprogrammiert.
Stadt und Planer haben darauf wie auf andere Einwände kaum Konkretes erwidert, wenig Klarheit geschaffen. Stattdessen: Wir nehmen es mit, da gehen wir nochmals ran. Eben: Gut, dass wir darüber gesprochen haben.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Neubaugebiet Seckenheim Wohnraum-Schaffung hat Vorrang
Konstantin Groß zum Baugebiet „Otto Bauder“ in Seckenheim